Als Jesus seinen Jüngern zum ersten Mal im Obergemach begegnete, war Thomas nicht bei ihnen. Wohl hörte er die Berichte der anderen und erhielt genügend Beweise für die Auferstehung von Jesus, doch sein Herz war von Schwermut und Unglaube erfüllt. Als er hörte, wie die Jünger über die wunderbaren Erscheinungen des auferstandenen Erlösers erzählten, wurde er nur noch verzweifelter. Wenn Jesus wirklich von den Toten auferstanden war, dann konnte es keine Hoffnung auf ein tatsächlich irdisches Königreich mehr geben. Zudem verletzte es seinen Stolz, wenn er daran dachte, dass sich sein Meister außer ihm allen anderen Jüngern offenbart haben sollte. Er war entschlossen, das Gehörte nicht zu glauben, und brütete eine ganze Woche lang über seinem Elend, das im Gegensatz zur Hoffnung und zum Glauben seiner Brüder umso dunkler erschien. SDL 783.3
Während dieser Zeit erklärte er wiederholt: »Das glaube ich nicht, es sei denn, ich sehe die Wunden von den Nägeln in seinen Händen, berühre sie mit meinen Fingern und lege meine Hand in die Wunde an seiner Seite.« (Johannes 20,25b NLB) Er war weder bereit, mit den Augen seiner Brüder zu sehen, noch einen Glauben in Anspruch zu nehmen, der sich auf ihr Zeugnis stützte. Er liebte seinen Herrn innig, doch er ließ es zu, dass Eifersucht und Misstrauen von seinem Verstand und seinem Herzen Besitz ergriffen. SDL 783.4
Einigen Jüngern diente das vertraute Obergemach als vorläufige Unterkunft. Abends versammelten sich dort alle, außer Thomas. Eines Tages entschloss sich auch Thomas, die anderen aufzusuchen. Trotz seines Unglaubens hegte er die schwache Hoffnung, dass die gute Nachricht doch wahr sein könnte. Während des Abendessens sprachen die Jünger über die Beweise, die ihnen Christus in den Weissagungen gegeben hatte. »Die Türen waren verschlossen; doch plötzlich stand Jesus, genau wie zuvor, in ihrer Mitte. Er sprach: ›Friede sei mit euch!‹« (Johannes 20,26b) SDL 784.1
Dann wandte er sich an Thomas und sagte: »Lege deine Finger auf diese Stelle hier und sieh dir meine Hände an. Lege deine Hand in die Wunde an meiner Seite. Sei nicht mehr ungläubig, sondern glaube!« (Johannes 20,27 NLB) Diese Worte zeigten, dass er die Gedanken und Äußerungen von Thomas kannte. Der zweifelnde Jünger wusste, dass niemand seiner Mitbrüder Jesus in der vergangenen Woche gesehen hatte. Sie hatten ihrem Meister nichts von seinem Unglauben erzählen können. Da erkannte er den Einen, der vor ihm stand, als seinen Herrn und verlangte nicht länger nach Beweisen. Voller Freude warf er sich Jesus zu Füßen und rief aus: »Mein Herr und mein Gott!« (Johannes 20,28b) SDL 784.2
Jesus nahm sein Bekenntnis an, tadelte ihn aber behutsam wegen seines Unglaubens: »Thomas, du glaubst, weil du mich gesehen hast; glückselig sind, die nicht sehen und doch glauben!« (Johannes 20,29 Schl.) Christus hätte sich mehr über seinen Glauben gefreut, wenn Thomas bereit gewesen wäre, das Zeugnis seiner Brüder anzunehmen. Würde die Welt heute dem Beispiel von Thomas folgen, würde niemand an die Erlösung glauben, denn alle, die Christus annehmen, müssen sich auf das Zeugnis anderer verlassen. SDL 784.3
Viele, die zum Zweifeln neigen, entschuldigen sich mit der Begründung, sie würden auch glauben, wenn sie denselben Beweis hätten, den Thomas von seinen Gefährten erhielt. Sie erkennen nicht, dass sie weitaus mehr haben als diesen Beweis. Viele warten wie Thomas darauf, dass ihnen jeder Grund zum Zweifeln genommen wird, doch ihr Wunsch wird sich nie erfüllen. So sehen sie sich Schritt für Schritt in ihrem Unglauben bestätigt. Jene, die sich selbst dazu erziehen, die Schattenseiten ihres Lebens zu betrachten, sich beklagen und jammern, wissen nicht, was sie tun. Sie säen Zweifel und werden Zweifel ernten. Daher werden viele in einer Zeit, in der Glaube und Vertrauen unentbehrlich sind, feststellen, dass sie weder hoffen noch glauben können. SDL 784.4
Durch sein Verhalten Thomas gegenüber wollte Jesus seine Nachfolger etwas lehren. Sein Beispiel zeigt uns, wie wir mit jenen umgehen sollen, die im Glauben schwach geworden sind und sich von ihren Zweifeln lenken lassen. Jesus überhäufte Thomas weder mit Vorwürfen, noch ließ er sich auf eine Diskussion ein. Er offenbarte sich selbst dem Zweifelnden. Thomas hatte äußerst unvernünftig gehandelt, als er die Bedingungen definierte, unter welchen er glauben würde. Jesus aber durchbrach mit seiner großherzigen Liebe und Rücksicht sämtliche Schranken. Der Unglaube wird selten durch Wortgefechte beseitigt. Er greift gewöhnlich zur Selbstverteidigung und findet immer neue Unterstützung und Rechtfertigung. Zeigt den Menschen Jesus in seiner Liebe und Barmherzigkeit als den gekreuzigten Erlöser! Dann wird man von vielen einst unwilligen Lippen das Bekenntnis von Thomas hören: »Mein Herr und mein Gott!« (Johannes 20,28b) SDL 784.5