“Liebe ist weder verletzend noch auf sich selbst bedacht.”
1.Korinther 13,5.
Höflichkeit wird häufig nicht gebührend geschätzt. Mancher ist zwar herzensgut, aber ihm fehlt gutes Benehmen. Wir kennen wahrscheinlich alle Menschen, deren Aufrichtigkeit und Gradheit uns Achtung abnötigt, in deren Nähe aber nichts von Güte und Freundlichkeit zu spüren ist. Ihre Unfreundlichkeit stößt andere ab und macht sie selbst nur noch unzufriedener. Dem Unhöflichen entgehen viele schöne und wertvolle Lebenserfahrungen. ERZ 243.1
Eltern und Lehrer sollten darauf achten, daß die Kinder in einer Atmosphäre aufwachsen, in der man heiter und höflich miteinander umgeht. Dem Einfluß eines fröhlichen Gesichts, einer freundlichen Stimme und guter Umgangsformen, kann sich eigentlich niemand entziehen. Kinder fühlen sich davon besonders angesprochen. In der Regel antworten sie mit einem ähnlichen Verhalten. ERZ 243.2
Mag sein, daß man seinem Verhalten einen gewissen Schliff verleiht, indem man sich an bestimmte Anstandsregeln hält, aber echte Höflichkeit lernt man dadurch nicht. ERZ 243.3
Selbstverständlich ist gutes Benehmen immer angebracht. Wenn es die eigenen Grundsätze erlauben, sollte man sich im Umgang mit anderen an die jeweils herrschenden Regeln halten und auch auf andere Rücksicht nehmen. Aber man sollte die eigene Überzeugung nicht aus Höflichkeit oder um des “guten Benehmens” willen verleugnen. Höflichkeit hat es mit der Achtung vor der Würde des anderen zu tun, unabhängig davon, zu welcher gesellschaftlichen Gruppierung oder zu welchem Volk er gehört. Man kann natürlich auch zuviel Gewicht auf äußere Umgangsformen und gutes Benehmen legen und damit viel Zeit vergeuden. Viele, die ganz besonderen Wert auf Etikette legen, haben wenig Achtung vor allem, was nicht ihrem blasierten Lebensstil entspricht. Solche Erziehung verbiegt den Charakter, weil sie den Eindruck erweckt, etwas Besonderes zu sein, und außerdem zu liebloser Kritik verleitet. ERZ 243.4
Echte Höflichkeit hat den anderen Menschen im Blick und will auf ihn Rücksicht nehmen. Eltern und Lehrer sollten deshalb in den Kindern Mitgefühl wecken und sie zur Freundlichkeit gegen jedermann anhalten. Die Erziehung hat dann ihren Sinn verfehlt, wenn der junge Mensch es nicht lernt, seinen Eltern gegenüber ehrerbietig zu sein. Die heranwachsende Jugend sollte die Vorzüge der Älteren schätzen, ihre Mängel geduldig tragen und ihnen beistehen, wenn ihre Hilfe gebraucht wird. Rücksichtsvoll, mitfühlend und hilfsbereit gegen Alte und Unglückliche zu sein und sich jedermann gegenüber höflich zu erweisen, das ist ein Ziel, das es anzustreben gilt. ERZ 244.1
Solch eine Gesinnung läßt sich am ehesten in der Schule des göttlichen Lehrmeisters lernen; durch bloßes Einhämmern bestimmter Verhaltensregeln ist da nicht viel zu erreichen. Wenn Christi Liebe das Herz durchdringt, formt sich der Charakter wie von selbst nach seinem Bilde. Das vermittelt eine Herzensbildung, die nicht zu vergleichen ist mit dem förmlichen Getue der sogenannten feinen Gesellschaft. ERZ 244.2
Die Bibel fordert zur Höflichkeit auf und bietet eine Fülle von Beispielen selbstloser Gesinnung und zuvorkommenden Verhaltens. Das alles ist ein Widerschein des Charakters Christi. Er ist es, der diese Wesenszüge auch in seinen Nachfolgern zum Leuchten bringt. Er fordert dazu auf: “Ihr sollt euch untereinander lieben, so wie ich euch geliebt habe.”1Johannes 13,34. ERZ 244.3
Besonders wertvolle Hinweise finden wir in dieser Hinsicht in den Schriften des Apostels Paulus. Eine der schönsten Stellen ist das Hohelied der Liebe: ERZ 244.4
“Wer liebt, ist geduldig und gütig.
Wer liebt, der ereifert sich nicht,
er prahlt nicht und spielt sich nicht auf. Wer liebt, der verhält sich nicht taktlos,
er sucht nicht den eigenen Vorteil
und läßt sich nicht zum Zorn erregen.
Wer liebt, der trägt keinem etwas nach;
es freut ihn nicht, wenn einer Fehler macht,
sondern wenn er das Rechte tut.
Wer liebt, der gibt niemals jemand auf,
in allem vertraut er und hofft er für ihn;
alles erträgt er mit großer Geduld.
Niemals wird die Liebe vergehen ...”11.Korinther 13,1-8 (GN). ERZ 244.5
Eine andere Tugend, die sorgfältig gepflegt werden sollte, ist die Ehrfurcht. Ehrfurcht vor Gott wird durch die Erkenntnis seiner unendlichen Größe und durch das Bewußtsein seiner ständigen Gegenwart in uns geweckt. Schon Kinder sollten erleben, daß die Stunde und der Ort des Gebets heilig sind, weil Gott im Geist zugegen ist. ERZ 245.1
Es wäre für jung und alt gut, wenn wir öfter darüber nachdächten, was es bedeutet, Gott nahe zu sein. Wahrscheinlich würden wir uns dann oft ganz anders verhalten, als das sonst der Fall ist. Mose hat eine Erfahrung gemacht, die auch uns heute zu denken geben sollte. Als er sich damals einem Busch näherte, aus dem Feuer loderte, und der trotzdem nicht verbrannte, gebot Gott: “Komm nicht näher ... zieh deine Sandalen aus, denn du stehst auf heiligem Boden.”22.Mose 3,5. Und als Jakob aus dem Traum, in dem er die Himmelsleiter gesehen hatte, erwachte, rief er aus: “Der Herr wohnt an diesem Ort ... und ich wußte es nicht! Man muß sich diesem Platz in Ehrfurcht nähern. Hier ist wahrhaftig das Haus Gottes, das Tor des Himmels!”31.Mose 28,16.17 (GN). ERZ 245.2
Schließlich forderte der Prophet Habakuk Israel auf: “Der Herr aber ist in seinem heiligen Tempel. Werdet still, erweist ihm Ehre, ihr Menschen überall auf der Erde.”4Habakuk 2,20 (GN). Und der Psalmdichter schrieb: ERZ 245.3
“Denn der Herr ist der höchste Gott,
der größte König über alle Götter:
In seiner Gewalt sind die Tiefen der Erde,
und ihm gehorchen die Gipfel der Berge.
Das Meer gehört ihm — er hat es gemacht,
und auch das Land — er hat es geformt.
Kommt, verneigt euch, werft euch nieder,
geht auf die Knie und betet ihn an,
ihn, den Herrn, unseren Schöpfer!”1Psalm 95,3-6 (GN). ERZ 246.1
“Denkt daran: Der Herr allein ist Gott!
Er hat uns geschaffen, und ihm gehören wir.
Sein Volk sind wir, für das er sorgt
wie ein Hirt für seine Herde.
Geht durch die Tempeltore mit einem Danklied,
betretet den Festplatz mit Lobgesang!
Preist ihn, dankt ihm für seine Taten!”2Psalm 100,3.4 (GN). ERZ 246.2
Auch den Namen Gottes wollen wir nur in Ehrerbietung nennen; nie sollte er leichtfertig oder gedankenlos verwendet werden. Selbst beim Beten sollten wir darauf achten, daß wir ihn nicht ständig wiederholen oder gar als Füllwort mißbrauchen. “Heilig und ehrfurchtgebietend ist sein Name”, heißt es in den Psalmen;3Psalm 111,9 (GN). und von den Engeln wird gesagt, daß sie ihr Antlitz verhüllen, wenn sie Gottes Namen nennen. Mit wieviel mehr Ehrfurcht sollten dann wir sündige Menschen ihn über unsere Lippen bringen! ERZ 246.3
Auch mit Gottes Wort wollen wir ehrerbietig umgehen. Deshalb können wir unsere Bibel nicht wie einen alltäglichen Gegenstand behandeln, auch wenn wir sie täglich benutzen. Zur Ehrfurcht vor Gottes Wort gehört auch, daß man Bibeltexte nicht zum Spaß zitiert, um irgendwelche schlagfertigen Bemerkungen zu machen. ERZ 246.4
Wahre Ehrerbietung zeigt sich im Gehorsam. Wenn Gott etwas anordnet oder von uns verlangt, dann geschieht das nicht von ungefähr, sondern hat seine Bedeutung. Deshalb ehren wir ihn am besten dadurch, daß wir tun, was er von uns erwartet. Auch denen, die Gott berufen hat, hier auf Erden an seiner Statt zu sprechen und zu handeln — Eltern und Erzieher —, sollte Achtung entgegengebracht werden. Wer sie ehrt, erweist zugleich Gott die Ehre. ERZ 246.5
Nicht zuletzt erwartet Gott Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft alten Menschen gegenüber: “Graues Haar ist ein würdevoller Schmuck — angemessen für alle, die Gottes Geboten folgen.”1Sprüche 16,31. Es erzählt von durchlittenen Kämpfen, von der Last, die standhaft getragen, und von Versuchungen, denen widerstanden wurde. Es weist auch darauf hin, daß Menschen sich dem Ende ihres Lebenswegs nähern und bald Abschied nehmen müssen. Wenn Kindern das bewußt gemacht wird, fällt es ihnen leichter, älteren Menschen ehrerbietig zu begegnen. Es tut ihnen und anderen gut, wenn sie sich an Gottes Weisung halten: “Begegnet älteren Menschen mit Achtung und helft ihnen, wo ihr könnt. Dadurch zeigt ihr, daß ihr mich ehrt. Ich bin der Herr, euer Gott!”23.Mose 19,32 (GN). ERZ 247.1
Gott hat dem Kind Vater und Mutter gegeben und sie zu seinen Stellvertretern gemacht. Dieser hohen Verantwortung werden nicht alle Eltern gerecht. Sie vergessen, daß sie ihren Kindern durch ihr Verhalten im Alltag eine lebendige Auslegung des Bibelwortes vermitteln sollen: “Wie ein Vater seine Kinder liebt, so liebt der Herr alle, die ihn ehren.”3Psalm 103,13. Und: “Ich will euch trösten wie eine Mutter ihr Kind.”4Jesaja 66,13. Glücklich das Kind, das durch Vertrauen und Gehorsam zu seinen Eltern auch Gott gehorchen und ihn ehren lernt. Etwas Wertvolleres kann man jungen Menschen kaum mitgeben auf ihren Lebensweg. ERZ 247.2