Nachdem die Israeliten südlich um Edom herumgezogen waren, wandten sie sich wieder nach Norden mit Blickrichtung auf das verheißene Land. Ihr Weg führte jetzt über eine weite Hochebene, über die kühle, frische Winde von den Bergen her wehten. Nach dem ausgedörrten Tal, das sie durchwandert hatten, war das eine willkommene Abwechslung, und hoffnungsvoll, in gehobener Stimmung beschleunigten sie ihre Schritte. Nachdem der Bach Sered überquert war, zogen sie östlich von Moab weiter. Der Herr hatte ihnen ja befohlen: “Du sollst den Moabitern keinen Schaden tun noch sie bekriegen; ich will dir von ihrem Lande nichts zum Besitz geben, denn ich habe Ar den Söhnen Lot zum Besitz gegeben.” 5.Mose 2,9. Dieselbe Anweisung erhielten sie bezüglich der Ammoniter, die ebenfalls Nachkommen Lots waren. PP 414.1
Weiter ging es nach Norden, und bald erreichten sie das Land der Amoriter. Ursprünglich besaß dieses starke, kriegerische Volk den südlichen Teil Kanaans. Als sie aber an Zahl zunahmen, gingen sie über den Jordan, fingen Krieg mit den Moabitern an und eroberten einen Teil ihres Gebietes. Hier ließen sie sich nieder und beherrschten nun das ganze Land vom Arnon im Süden bis zum Jabbok im Norden. Durch dieses Gebiet führte der Weg zum Jordan, den die Israeliten gehen wollten. Darum sandte Mose eine freundliche Botschaft an Sihon, den Amoriterkönig, in dessen Hauptstadt: “Ich will durch dein Land ziehen. Nur wo die Straße geht, will ich gehen; ich will weder zur Rechten noch zur Linken vom Weg abweichen. Speise sollst du mir für Geld verkaufen, damit ich zu essen habe, und Wasser sollst du mir für Geld geben, damit ich zu trinken habe. Ich will nur hindurchziehen.” 5.Mose 2,27.28. Die Antwort war eine entschiedene Weigerung. Die Amoriter boten ihr ganzes Heer auf, dem Vormarsch der Eindringlinge entgegenzutreten. Diese furchtbare Schar versetzte die Israeliten in Schrecken. Auf einen Zusammenstoß mit so gut bewaffneten und ausgebildeten Streitkräften waren sie nur schlecht vorbereitet. Was Geschicklichkeit in der Kriegführung betraf, waren also ihre Feinde im Vorteil. Nach menschlichem Ermessen würde es mit Israel ein schnelles Ende nehmen. PP 414.2
Aber Mose hielt seinen Blick fest auf die Wolkensäule gerichtet und ermutigte die Israeliten mit dem Hinweis, daß das Zeichen der Gegenwart Gottes noch immer bei ihnen war. Gleichzeitig ordnete er an, alles was in menschlicher Macht stand, zur Vorbereitung eines Krieges zu tun. Ihre Feinde waren kampfbegierig und hofften zuversichtlich, die unvorbereiteten Israeliten bald aus dem Lande zu vertreiben. Aber der Herr aller Lande hatte dem Führer Israels den Auftrag gegeben: “Macht euch auf und zieht aus und geht über den Arnon! Siehe, ich habe Sihon, den König der Amoriter zu Hesbon, in deine Hände gegeben mit seinem Lande. Fange an, es einzunehmen, und kämpfe mit ihm. Von heute an will ich Furcht und Schrecken vor dir auf alle Völker unter dem ganzen Himmel legen, damit, wenn sie von dir hören, ihnen bange und weh werden soll vor deinem Kommen.” 5.Mose 2,24.25. PP 415.1
Diese Völker an Kanaans Grenzen wären verschont geblieben, wenn sie nicht Gottes Wort getrotzt und den Vormarsch Israels zu verhindern gesucht hätten. Der Herr hatte sich selbst diesen heidnischen Völkern gegenüber langmütig und von großer Freundlichkeit und Barmherzigkeit erzeigt. Als Abraham im Gesicht kundgetan wurde, daß seine Nachkommen, die Kinder Israel, vierhundert Jahre lang Fremdlinge in einem unbekannten Lande sein sollten, gab ihm der Herr die Verheißung: “Sie aber sollen erst nach vier Menschenaltern wieder hierher kommen; denn die Missetat der Amoriter ist noch nicht voll.” 1.Mose 15,16. Obgleich sie Götzendiener waren, die wegen ihrer großen Bosheit das Leben mit Recht verwirkt hatten, schonte Gott die Amoriter vierhundert Jahre lang. Unmißverständlich wollte er ihnen zeigen, daß er der allein wahre Gott, der Schöpfer Himmels und der Erde war. Sie kannten alle seine Wunder, die er vollbracht hatte, als er Israel aus Ägypten führte. Sie hatten genügend gesehen und gehört, um die Wahrheit zu kennen, wenn sie nur bereit gewesen wären, sich von Abgötterei und Ausschweifung abzuwenden. Aber sie verwarfen die Erkenntnis und hielten an ihren Götzen fest. PP 415.2
Als der Herr sein Volk zum zweiten Mal an die Grenzen Kanaans führte, gewährte er jenen heidnischen Völkern weitere Beweise seiner Macht. Sie erlebten, daß Gott mit den Israeliten war, als sie über König Arad und die Kanaaniter siegten, und daß er jenes Wunder wirkte, durch das sie vom Biß der Schlangen geheilt wurden. Obwohl den Israeliten der Durchzug durch das Land Edom verweigert wurde und sie deshalb gezwungen waren, den langen, beschwerlichen Weg zum Roten Meer zurück zu nehmen, hatten sie auf allen Wanderungen und auf den Lagerplätzen an Edom, Moab und Ammon vorbei weder Feindseligkeit bewiesen noch den dortigen Bewohnern und ihren Besitztümern irgendwelchen Schaden zugefügt. Als sie an die Grenzen der Amoriter kamen, erbaten sie wiederum nur die Erlaubnis, geradeswegs durch das Land ziehen zu dürfen. Sie versprachen, dieselben Regeln zu beobachten wie im Verkehr mit andern Völkern. Als der Amoriterkönig diese höfliche Bitte abschlug und in trotziger Verachtung sein Heer zum Kampf sammelte, war das Maß der Bosheit für die Amoriter voll. Nun wandte Gott seine Macht zu ihrer Vernichtung an. PP 416.1
Die Israeliten gingen über den Arnon und rückten gegen den Feind vor. Es kam zum Gefecht, bei dem sie Sieger blieben. Und infolge der gewonnenen Überlegenheit waren sie bald im Besitz des Amoriterlandes. Der Herr der Heerscharen Gottes hatte die Feinde seines Volkes überwältigt. Er hätte das gleiche achtunddreißig Jahre zuvor getan, wenn Israel ihm nur vertraut hätte. PP 416.2
Voll Hoffnung und Mut drängte Israels Heer vorwärts. Bald erreichte es, noch nördlicher Richtung folgend, ein Land, an dem es seinen Mut und sein Gottvertrauen erproben konnte. Vor ihm lag nämlich das mächtige, dicht bevölkerte Königreich Basan, das von großen steinernen Städten übersät war, die bis zum heutigen Tage Bewunderung erregen, “sechzig Städte, ... die befestigt waren mit hohen Mauern, Toren und Riegeln, außerdem sehr viele offene Städte”. 5.Mose 3,4.5. Die Häuser waren aus riesigen schwarzen Steinen erbaut und von solch erstaunlicher Größe, daß sie zu der Zeit für jede Streitmacht uneinnehmbar schienen. Das Land war voll unbewohnter Höhlen, es hatte steiles Gefälle, gähnende Abgründe und felsige Bergwände. Die Einwohner, Nachkommen eines riesenhaften Geschlechtes, waren selbst außergewöhnlich groß und stark und bekannt für ihre gewalttätige Grausamkeit. PP 416.3
Sie bildeten den Schrecken aller umwohnenden Völker, und Og, der König des Landes, überragte selbst sein Volk von Riesen noch an Größe und Tapferkeit. PP 417.1
Aber die Wolkensäule bewegte sich vorwärts, und unter ihrer Führung rückten die Hebräer auf Edrei vor, wo der Riesenkönig samt seinen Streitkräften ihr Herannahen erwartete. Og hatte den Kampfplatz äußerst geschickt gewählt. Die Stadt Edrei lag am Rande einer Hochebene, die steil aus dem Flachland aufstieg und mit schartigen, vulkanischen Gesteinsbrocken bedeckt war. Man konnte nur auf schmalen, steilen Pfaden an sie herankommen, die außerordentlich mühsam zu ersteigen waren. Für den Fall einer Niederlage flüchteten Ogs Streitkräfte in jene Felsenwüste, wohin die fremden Heere ihnen unmöglich zu folgen vermochten. PP 417.2
Siegesgewiß kam der König mit einem gewaltigen Heer in das offene Land hinaus. Gleichzeitig hörte man herausforderndes Geschrei von der Hochebene, wo die Speere von Tausenden kampfbegieriger Krieger sichtbar wurden. Die Hebräer sahen die hohe Gestalt jenes Riesen der Riesen, der seine Streiter noch überragte. Sie nahmen die Heerscharen wahr, die ihn umgaben, und die scheinbar uneinnehmbare Festung, hinter der sich unsichtbar weitere Tausende verschanzt hatten. Da zitterten viele in Israel vor Furcht. Aber Mose blieb ruhig und fest; denn der Herr der Heerscharen hatte über den König von Basan gesagt: “Fürchte dich nicht vor ihm, denn ich habe ihn und sein ganzes Kriegsvolk mit seinem Land in deine Hände gegeben. Und du sollst mit ihm tun, wie du mit Sihon, dem König der Amoriter getan hast, der zu Hesbon herrschte.” 5.Mose 3,2. PP 417.3
Mit der ruhigen Zuversicht ihres Führers kam Gottvertrauen auch über die Israeliten. Sie vertrauten Gottes Allmacht, und er ließ sie nicht im Stich. Vor dem Herrn der Heerscharen Gottes konnten weder gewaltige Riesen noch befestigte Städte, weder eine bewaffnete Kriegsmacht noch Gebirgsfestungen standhalten. Er selbst ging dem Heer seines Volkes voran, er schlug den Feind und siegte für Israel. Der Riesenkönig und sein Heer wurden vernichtet, und die Israeliten nahmen sogleich Besitz vom ganzen Lande. So wurde ein Volk, das sich dem Laster und verabscheuungswürdiger Abgötterei ergeben hatte, vom Erdboden vertilgt. PP 417.4
Bei der Eroberung von Gilead und Basan erinnerten sich viele der Ereignisse bei Kadesch, die Israel vor fast vierzig Jahren zu der langen Wüstenwanderung verurteilten. Sie begriffen, daß der Bericht der Kundschafter über das verheißene Land in vieler Beziehung gestimmt hatte. Die Städte waren von hohen Mauern umgeben und von Riesen bewohnt, denen gegenüber die Hebräer Zwerge waren. Aber sie erkannten nun auch den verhängnisvollen Irrtum ihrer Väter, die Gottes Macht bezweifelten. Einzig und allein das hatte sie damals daran gehindert, das Gelobte Land sofort zu betreten. PP 418.1
Als sie sich das erste Mal anschickten, Kanaan zu betreten, war das Unternehmen weit weniger schwierig als nun. Gott hatte seinem Volk verheißen, er werde ihm vorangehen und kämpfen, wenn es nur seiner Stimme gehorchte. Um die Bewohner zu vertreiben, wollte er auch Hornissen schicken. Allgemein erregten die Israeliten zu jener Zeit noch keine Furcht bei den Völkern. Es war nur wenig geschehen, um ihr Vorrücken aufzuhalten. Aber als der Herr nun gebot, vorwärts zu gehen, mußten sie gegen wachsame, mächtige Feinde anrücken und mit großen, gut ausgebildeten Heeren streiten, die gerüstet waren, ihren Vormarsch aufzuhalten. PP 418.2
Im Kampf gegen Og und Sihon hatte das Volk die gleiche Prüfung zu bestehen, bei der seine Väter so versagten. Nur war die Bewährungsprobe nun viel schwerer als damals, als Gott Israel erstmals befohlen hatte, voranzugehen. Die Schwierigkeiten auf ihrem Wege hatten wesentlich zugenommen, seitdem sich die Israeliten geweigert hatten, es im Namen des Herrn zu tun. So stellt Gott sein Volk auch heute noch auf die Probe. Verliert es die Geduld dabei, wird er es einer zweiten Prüfung unterziehen, dann aber strenger und härter als vorher. Und das wird sich wiederholen, bis es dem Volk gelingt, die Prüfung zu bestehen, oder bis Gott ihm die Erkenntnis entzieht und es der Finsternis überläßt, weil es widerspenstig geblieben ist. PP 418.3
Die Hebräer erinnerten sich nun daran, wie sie einst in die Flucht geschlagen und Tausende getötet wurden, als ihre Streitkräfte in den Kampf gezogen waren. Aber damals gingen sie gegen den ausdrücklichen Befehl Gottes vor, und zwar ohne Mose, der von Gott zur Führung ausersehen war, ohne die Wolkensäule, das Sinnbild der Gegenwart Gottes, und ohne die Bundeslade. Diesmal aber war Mose bei ihnen und ermutigte sie mit zuversichtlichen, gläubigen Worten. Voran ging ihnen der Sohn Gottes in der Wolkensäule, und die heilige Lade begleitete das Heer. Diese Erfahrung ist lehrreich für uns. Der mächtige Gott Israels ist auch unser Gott. Auf ihn können wir uns verlassen, und wenn wir seinen Geboten gehorchen, wird er uns auf ebenso einzigartige Weise helfen wie seinem Volk im Altertum. Jeder, der den Weg der Pflichterfüllung zu gehen versucht, wird zeitweise von Zweifel und Unglauben angefochten. Manchmal wird der Weg von scheinbar unübersteigbaren Hindernissen versperrt sein, so daß jene verzagen, die in der Mutlosigkeit klein beigeben. Aber gerade zu ihnen sagt Gott: Geht voran! Tut um jeden Preis eure Pflicht! Die Schwierigkeiten, die so furchtbar erscheinen, daß sie euch mit Schrecken erfüllen, werden verschwinden, wenn ihr gehorsam vorwärts geht und in Demut auf Gott vertraut. PP 418.4