Wieder einmal kam es also zum Kriege zwischen Israel und den Philistern. “Als nun die Philister sich versammelten und herankamen und sich lagerten bei Sunem”, am Nordrande der Ebene Jesreel, bezog Saul mit seinen Streitkräften nur wenige Kilometer davon entfernt sein Lager am Fuße des Gebirges Gilboa, am Südrande der Ebene. Hier hatte Gideon mit nur dreihundert Mann das ganze Heer der Midianiter in die Flucht geschlagen. Aber der Geist, der damals Israels Befreier beseelte, unterschied sich wesentlich von dem, der jetzt den König bewegte. Gideon zog aus, stark im Glauben an den mächtigen Gott Jakobs; Saul dagegen fühlte sich von vornherein hilflos und allein, weil Gott ihn verlassen hatte. Als er weit umher die Unmenge der Philister sah, “fürchtete er sich, und sein Herz verzagte sehr”. 1.Samuel 28,3.4. PP 654.1
Saul hatte inzwischen erfahren, daß David mit seinen Leuten bei den Philistern war und rechnete stark damit, daß Isais Sohn die Gelegenheit wahrnehmen würde, sich für alles erlittene Unrecht zu rächen. Der König war in großer Sorge. Seine eigene unvernünftige Leidenschaft hatte ihn dazu getrieben, den Erwählten Gottes zu vernichten. Dadurch hatte er das Volk in diese Gefahr gestürzt. Er hatte alles zur Verfolgung Davids aufgeboten und dabei die Verteidigung des Reiches außer acht gelassen. PP 654.2
Diesen Vorteil nutzten die Philister jetzt aus und drangen bis ins Herz des Landes vor. Während Saul unter satanischem Einfluß alles daran setzte, David zur Strecke zu bringen, stachelte derselbe böse Geist die Philister an, die Gelegenheit, Saul zu vernichten und das Volk Gottes zu überwinden, wahrzunehmen. Wie oft bedient sich der Erzfeind bis heute derselben Methoden! Er veranlaßt einen ungeheiligten Menschen, Mißgunst und Streit in der Gemeinde zu erregen, und benutzt dann die Spaltung im Volke Gottes, um es durch seine Helfershelfer zugrunde zu richten. PP 654.3
Am nächsten Morgen mußte Saul zum Kampf gegen die Philister antreten. Immer dunkler zogen sich die Schatten des drohenden Verhängnisses über ihm zusammen. Ihn verlangte nach Hilfe und Weisung. Doch vergeblich suchte er Rat bei Gott. “Der Herr antwortete ihm nicht, weder durch Träume noch durch das Los ‘Licht’ noch durch Propheten.” 1.Samuel 28,6. Niemals hatte der Herr einen Menschen abgewiesen, der aufrichtig und demütig zu ihm kam. Weshalb wandte er sich von Saul ab, ohne ihm zu antworten? Der König hatte durch sein eigenes Verhalten die Gunst verwirkt, Gott auf irgendeine Weise zu befragen. Er hatte den Rat des Propheten Samuel verworfen, David, den Erwählten Gottes, verbannt und die Priester des Herrn erschlagen lassen. Konnte er jetzt eine Antwort von Gott erwarten, nachdem er selbst jede Verbindung zum Himmel abgeschnitten hatte? Er hatte sich gegen den Geist der Gnade versündigt, wie konnte er da eine Antwort vom Herrn durch Träume oder Offenbarungen erwarten? Saul wandte sich nicht in reuiger Demut zu Gott. Er suchte keine Sündenvergebung und Versöhnung, sondern lediglich Errettung von seinen Feinden. Halsstarrig und aufsässig hatte er sich selbst von Gott getrennt. Nun gab es kein Zurück, es sei denn über den Weg der Reue und Bußfertigkeit. Aber in seiner Angst und Verzweiflung suchte der stolze Monarch Hilfe bei einer anderen Quelle. Er sprach zu seinen Getreuen: “Sucht mir ein Weib, das Tote beschwören kann, daß ich zu ihr gehe und sie befrage.” 1.Samuel 28,7. Saul wußte genau, was Geisterbeschwörung bedeutete. Der Herr hatte sie ausdrücklich verboten, und alle, die dergleichen ausübten, standen unter dem Todesurteil. Zu Samuels Lebzeiten hatte Saul befohlen, alle Wahrsager und Totenbeschwörer umzubringen. Jetzt nahm er selber zu jenem Orakel Zuflucht, das er früher als einen Greuel verdammt hatte. PP 655.1
Man berichtete dem König, daß solch eine Frau mit einem Wahrsagegeist heimlich in Endor lebte. Sie hatte einen Bund mit Satan geschlossen und sich ihm ausgeliefert, um seine Pläne vollbringen zu helfen. Als Lohn wirkte der Fürst der Finsternis Wunder für sie und ließ sie geheime Dinge wissen. PP 655.2
Verkleidet machte sich Saul mit nur zwei Dienern nachts auf den Weg zu dem Schlupfwinkel der Zauberin. Wie erbärmlich! Israels König gefangengenommen von dem Willen Satans! Wie düster werden eigene Wege, wenn man dem Geiste Gottes beharrlich widersteht! Und wie furchtbar ist selbstverschuldete Gebundenheit an den schlimmsten Tyrannen — an das eigene Ich! Vertrauen zu Gott und Gehorsam gegenüber seinem Willen waren die einzigen Bedingungen, unter denen Saul König von Israel hätte bleiben können. Hätte er sich während seiner ganzen Regierungszeit an sie gehalten, wäre sein Königtum gesichert gewesen; Gott der Allmächtige wäre dann sein Führer und sein Schild gewesen. Er hatte Saul lange in Geduld getragen; und obwohl dessen Eigensinn und Widerspenstigkeit die göttliche Stimme in seinem Innern fast zum Schweigen gebracht hatten, war immer noch Gelegenheit zur Umkehr. Als Saul sich aber in der Gefahr von Gott abwandte und Erleuchtung bei einem Bundesgenossen Satans suchte, hatte er das letzte Band zwischen sich und seinem Schöpfer zerschnitten. Damit unterstellte er sich völlig jener Teufelsmacht, deren Gewalt er seit Jahren erlegen war und die ihn an den Rand des Verderbens gebracht hatte. PP 655.3
Im Schutze der Dunkelheit suchten Saul und seine Begleiter ihren Weg über die Ebene, kamen unversehrt am Heer der Philister vorbei und überquerten den Bergsattel zu dem einsamen Haus der Zauberin von Endor. Hier hielt sich seit langem diese Frau, die einen Wahrsagegeist hatte, verborgen und setzte heimlich ihre gottlosen Beschwörungen fort. Trotz der Verkleidung erkannte sie sofort an der hohen Gestalt und der königlichen Haltung, daß sie keinen gewöhnlichen Krieger vor sich hatte. Sie argwöhnte bereits, ihr Besucher könnte Saul sein, und die reichen Geschenke bestärkten sie in ihrem Verdacht. Auf seine Bitte “Wahrsage mir, weil du Geister beschwören kannst, und hole mir herauf, wen ich dir nenne”, erwiderte sie: “Siehe, du weißt doch selbst, was Saul getan hat, wie er die Geisterbeschwörer und Zeichendeuter ausgerottet hat im Lande; warum willst du mir denn eine Falle stellen, daß ich getötet werde? Saul aber schwor ihr bei dem Herrn und sprach: So wahr der Herr lebt: es soll dich in dieser Sache keine Schuld treffen.” Als sie fragte: “Wen soll ich dir heraufholen?” sagte er: “Samuel.” 1.Samuel 28,8-11. PP 656.1
Nachdem sie ihre Zaubersprüche gemurmelt hatte, sagte sie: “Ich sehe einen Geist heraufsteigen aus der Erde ... Es kommt ein alter Mann herauf und ist bekleidet mit einem Priesterrock. Da erkannte Saul, daß es Samuel war, und neigte sich mit seinem Antlitz zur Erde und fiel nieder.” 1.Samuel 28,13.14. Der da auf die Zauberformel der Frau hervorkam, war nicht Gottes heiliger Prophet. Samuel befand sich nicht an diesem Aufenthaltsort böser Geister. Eine derartige übernatürliche Erscheinung brachte einzig Satan hervor. Er konnte ebenso Samuels Gestalt annehmen wie die eines Lichtengels, als er Christus in der Wüste versuchte. PP 656.2
Die ersten Worte der Frau unter dem Zauber ihrer Beschwörung waren an den König gerichtet: “Warum hast du mich betrogen? Du bist Saul.” Somit warnte der böse Geist, der scheinbar den Propheten verkörperte, diese gottlose Frau zuerst vor der Täuschung, die man ihr zugedacht hatte. Die Botschaft des vorgeblichen Propheten an Saul hieß: “Warum hast du meine Ruhe gestört, daß du mich heraufsteigen lässest? Saul sprach: Ich bin in großer Bedrängnis, die Philister kämpfen gegen mich, und Gott ist von mir gewichen und antwortet mir nicht, weder durch Propheten noch durch Träume; darum hab ich dich rufen lassen, daß du mir kundtust, was ich tun soll.” 1.Samuel 28,12.15. PP 657.1
Zu Samuels Lebzeiten hatte er Samuels Rat verschmäht und seine Zurechtweisungen übel vermerkt. Aber jetzt, in der Not und im Unglück, hielt er ihn für seine einzige Hoffnung, und um sich des Gesandten Gottes zu versichern, nahm er vergeblich seine Zuflucht bei dem Botschafter der Hölle. Saul hatte sich Satan ganz und gar ausgeliefert, der nun die Gelegenheit ausnutzte, den unglücklichen König völlig zugrunde zu richten. Sauls angstvolle Bitte wurde — angeblich aus Samuels Munde — mit dem schrecklichen Bescheid beantwortet: PP 657.2
“Warum willst du mich befragen, da doch der Herr von dir gewichen und dein Feind geworden ist? Der Herr hat dir getan, wie er durch mich geredet hat, und hat das Königtum aus deiner Hand gerissen und David, deinem Nächsten, gegeben. Weil du der Stimme des Herrn nicht gehorcht und seinen grimmigen Zorn nicht an Amalek vollstreckt hast, darum hat der Herr dir das jetzt getan. Dazu wird der Herr mit dir auch Israel in die Hände der Philister geben.” 1.Samuel 28,16-19. PP 657.3
Bei seinem ganzen empörerischen Verhalten war Saul Satans Schmeicheleien und Täuschungen erlegen. Es ist des Versuchers Art seit je, Sünde zu verharmlosen, Übertretungen angenehm und verlokkend erscheinen zu lassen und für Gottes Warnungen und Drohungen unempfänglich zu machen. So hatte sich auch Saul immer wieder gegenüber Samuels Vorwürfen und Warnungen gerechtfertigt. Aber jetzt, in der äußersten Not, kehrte Satan alles um und zeigte ihm die Ungeheuerlichkeit seiner Sünde und die Unmöglichkeit der Vergebung, um ihn zur Verzweiflung zu treiben. Nichts war geeigneter, Saul den Mut zu rauben und sein Verständnis zu verwirren oder ihn ausweglos zum Selbstmord zu verleiten. PP 657.4
Saul war vor Müdigkeit und Hunger erschöpft, er fürchtete sich, und sein Gewissen quälte ihn. Als er nun die furchtbare Ankündigung hörte, bebte er wie eine Eiche im Sturm und stürzte zu Boden. PP 658.1
Die Zauberin erschrak. Israels König lag vor ihr wie ein Toter. Welche Folgen mußte es für sie haben, falls er in ihrem Versteck stürbe? Sie redete ihm zu, aufzustehen und zu essen. Sie drängte ihn, für die Erhaltung seines Lebens zu sorgen, nachdem sie seinem Wunsch nachgegeben und sich selbst gefährdet hatte. Seine Diener unterstützten ihre Bitte, und schließlich gab Saul nach. Die Frau setzte ihm schnellstens fettes Kalbfleisch und ungesäuertes Brot vor. Welch ein Bild! Kurz zuvor war in diesem schauerlichen Schlupfwinkel und in Anwesenheit des Dieners Satans das Todesurteil über den von Gott gesalbten König Israels ausgesprochen worden, und nur wenig später setzte sich Saul zum Essen nieder, um sich für den tödlichen Kampf des folgenden Tages zu stärken. PP 658.2
Noch vor Tagesanbruch kehrte er mit seinen Begleitern in das eigene Lager zurück, um sich kampfbereit zu machen. Dadurch, daß Saul jenen Geist der Finsternis befragte, richtete er sich selbst. Niedergedrückt von Verzweiflung, konnte er seinem Heer unmöglich Mut einflößen und, von der Kraftquelle getrennt, die Gedanken der Israeliten nicht auf Gott als ihren Helfer lenken. So ging die Voraussage des Bösen ihrer Erfüllung entgegen. PP 658.3
In der Ebene von Sunem und an den Hängen des Gebirges Gilboa prallten Israels Heere und die Philister in tödlicher Begegnung aufeinander. Obwohl ihm das schreckliche Erlebnis in der Höhle von Endor alle Hoffnung genommen hatte, kämpfte Saul mit dem Mut der Verzweiflung für Thron und Reich. Vergeblich! “Die Männer Israels flohen vor den Philistern und blieben erschlagen liegen auf dem Gebirge Gilboa.” Drei tapfere Söhne des Königs starben an seiner Seite. Bogenschützen drangen auf ihn ein. Er sah seine Krieger um sich herum fallen und seine Söhne durchs Schwert getötet. Selbst verwundet, konnte er weder kämpfen noch fliehen. Es gab kein Entrinnen mehr. Aber lebend wollte er den Philistern nicht in die Hände fallen. So befahl er seinem Waffenträger: “Zieh dein Schwert und erstich mich damit.” 1.Samuel 31,1.4. Als der Mann sich weigerte, seine Hand gegen den Gesalbten des Herrn zu erheben, stürzte sich Saul selbst in sein Schwert und starb von eigener Hand. PP 658.4
So endete Israels erster König mit der Schuld des Selbstmords beladen — ein verfehltes Leben. Ehrlos geworden, ging er hoffnungslos unter, weil er sich beharrlich dem Willen Gottes widersetzt hatte. PP 659.1
Die Nachricht von der Niederlage verbreitete sich rasch im ganzen Lande Israel und jagte allen Bewohnern gewaltigen Schrecken ein. Sie flohen aus den Städten, von denen die Philister unbehelligt Besitz nahmen. Daß sich Saul von Gott losgesagt hatte, brachte das Volk fast an den Rand des Untergangs. PP 659.2
Am Tage nach der Schlacht suchten die Philister die Walstatt ab, beraubten die Erschlagenen und fanden die Leichname Sauls und seiner drei Söhne. Um ihren Sieg zu krönen, schlugen sie Saul den Kopf ab und zogen ihm die Rüstung aus. Dann schickten sie Kopf und Panzer, triefend von Blut, als Siegestrophäe in ihr Land, “um es zu verkünden im Hause ihrer Götzen und unter dem Volk”. Die Rüstung kam schließlich “in das Haus der Astarte”, das Haupt wurde im Dagontempel aufgehängt. 1.Samuel 31,9.10. Sie schrieben ihren Siegesruhm diesen falschen Göttern zu, und der Name Jahwes war wieder einmal entehrt. PP 659.3
Die Leichname Sauls und seiner Söhne wurden nach Beth-Schean geschleift, nicht weit von Gilboa in der Nähe des Jordans. Hier wurden sie der Reihe nach aufgehängt und den Raubvögeln zum Fraß überlassen. Aber tapfere Männer aus Jabesch in Gilead erinnerten sich dankbar daran, daß Saul in seinen früheren glücklichen Jahren ihre Stadt einmal befreit hatte. Sie bargen die Körper des Königs und der Prinzen und gaben ihnen ein ehrenvolles Begräbnis. In der Nacht setzten sie über den Jordan, “nahmen die Leichname Sauls und seiner Söhne von der Mauer zu Beth-Schean und brachten sie nach Jabesch und salbten sie dort. Und sie nahmen ihre Gebeine und begruben sie unter dem Tamariskenbaum bei Jabesch und fasteten sieben Tage.” 1.Samuel 31,12.13. So wurde eine edle Tat nach vierzig Jahren belohnt: Liebevolle, mitleidige Hände bereiteten Saul und seinen Söhnen in jener dunklen Stunde der Niederlage und Schande eine Ruhestätte. PP 659.4