Ich sprach zu den Besuchern in Otsego über die Verse vier und fünf des zweiten Kapitels der Offenbarung, wo es heißt: “Aber ich habe gegen dich, daß du die erste Liebe verläßt. So denke nun daran, wovon du abgefallen bist, und tue Buße und tue die ersten Werke! Wenn aber nicht, werde ich über dich kommen und deinen Leuchter wegstoßen von seiner Stätte wenn du nicht Buße tust.” FG1 389.1
Die hier Angesprochenen haben viele hervorragende Fähigkeiten. Sie werden vom “treuen Zeugen” anerkannt. Und doch hält er ihnen vor: “Aber etwas habe ich an euch auszusetzen: Ihr liebt mich nicht mehr wie am Anfang.” Offenbarung 2,4 (GN). Hier ist also ein Mangel, der gestillt werden muß. All die anderen Gnadengaben sind nicht ausreichend, um diese Unzulänglichkeit aufzuwiegen. Deshalb wird die Gemeinde ermahnt: “Denkt darüber nach, von welcher Höhe ihr herabgestürzt seid! Kehrt um und handelt wieder so wie zu Beginn! Wenn ihr euch nicht ändert, werde ich zu euch kommen und euren Leuchter von seinem Platz stoßen ... Wer hören kann, der achte auf das, was der Geist den Gemeinden sagt! Wer den Sieg erlangt, dem gebe ich das Recht, vom Baum des Lebens zu essen, der im Garten Gottes wächst.” Offenbarung 2,5.7 (GN). FG1 389.2
In diesem Abschnitt finden sich Warnungen und Ermahnungen, Drohungen und Verheißungen des treuen Zeugen, der die sieben Sterne in seiner Rechten hält. “Die sieben Sterne sind Engel der sieben Gemeinden, und die sieben Leuchter sind sieben Gemeinden.” Offenbarung 1,20. FG1 389.3
Als diese Gemeinde im Heiligtum gewogen wurde, befand man sie als mangelhaft, weil sie die erste Liebe verlassen hatte. Der treue Zeuge erklärt wohl: “Ich kenne deine Werke und deine Mühsal und deine Geduld und weiß, daß du die Bösen nicht ertragen kannst; und du hast die geprüft, die sagen, sie seien Apostel, und sind’s nicht, und hast sie als Lügner befunden, und hast Geduld, und hast um meines Namens willen die Last getragen und bist nicht müde geworden.” Offenbarung 2,2.3. Dennoch offenbart diese Gemeinde einen Mangel. Woran fehlt es denn in so schlimmer Weise? — “Du hast deine erste Liebe verlassen!” — Ist das nicht auch unsere Situation? Unsere Lehren mögen mit Gottes Wort übereinstimmen. Wir mögen falsche Lehren bekämpfen und uns gegen jene wenden, die nicht grundsatztreu sind. Wir mögen uns unermüdlich einsetzen. Und doch ist all das nicht ausreichend. Was sind unsere Beweggründe? Warum werden wir zur Buße gerufen? — “Du hast deine erste Liebe verlassen!” FG1 390.1
Jedes Gemeindeglied sollte diese wichtigen Warnungen und Ermahnungen bedenken. Dabei möge sich jeder prüfen, ob er beim Einsatz für die Wahrheit und bei Diskussionen über die Lehre nicht seine innige Liebe zu Jesus verloren hat. Ist nicht Christus aus den Predigten und aus dem Herzen geschwunden? Besteht nicht die Gefahr, daß sich viele zur Wahrheit bekennen und sich missionarisch einsetzen, während die Liebe zu Christus nicht mehr mit diesen Bemühungen verbunden ist? Die Warnung des treuen Zeugen ist äußerst wichtig; sie mahnt uns, daran zu denken, wovon wir abgefallen sind, und umzukehren, indem wir wieder die ersten Werke tun. “Wenn aber nicht”, sagt der treue Zeuge, “werde ich über dich kommen und deinen Leuchter wegstoßen von seiner Stätte — wenn du nicht Buße tust.” Offenbarung 2,5. FG1 390.2
O daß doch die Gemeinde ihr Bedürfnis nach dem Feuer der ersten Liebe erkennen möge! Fehlt es daran, sind alle anderen Vorzüge unzureichend. Der Aufruf zur Bekehrung kann nicht gefahrlos mißachtet werden. Ein Glaube an die Theorie der Wahrheit ist nicht genug. Wenn du diese Theorie den Ungläubigen darbietest, bist du damit noch kein Zeuge für Christus. Als du die gegenwärtige Wahrheit erkanntest, fiel ein helles Licht in dein Herz und erfreute dich; dieses Licht ist für deine Erfahrungen und deine Arbeit unverzichtbar, und doch ist es aus deinem Herzen und Leben geschwunden. Christus nimmt deinen erlahmenden Eifer wahr und sagt dir, daß du gefallen und damit in einer gefährlichen Lage bist. FG1 390.3
Viele haben es versäumt, die verpflichtenden Forderungen des Gesetzes im Lichte der unendlichen Liebe Christi darzustellen. Sie haben so bedeutende Wahrheiten und wichtige Erneuerungen zu verkündigen, machen sich dabei aber nicht klar, welch hohen Wert Christi Sühnopfer im Hinblick auf Gottes Liebe zu uns Menschen hat. Die Liebe zu Jesus und dessen Liebe zu uns Sündern hat sich aus der Glaubenserfahrung jener verflüchtigt, die beauftragt sind, das Evangelium zu verkündigen. An die Stelle des Erlösers der Menschheit ist das eigene Ich getreten. FG1 391.1
Das Gesetz muß den Übertretern wohl nahegebracht werden, aber nicht als etwas von Gott Losgelöstes, sondern als eine Darstellung seines Wesens. Wie man das Sonnenlicht nicht von seiner Quelle trennen kann, so kann man auch Gottes Gesetz nicht unabhängig von seinem göttlichen Autor wahrheitsgemäß darbieten. Der Verkündiger sollte sagen können: “Im Gesetz drückt sich Gottes Wille aus. Komm doch und probier selbst aus, ob es nicht ‘heilig, gerecht und gut’ ist (Römer 7,12), wie es Paulus behauptet!” Es tadelt die Sünde und verurteilt den Sünder; es zeigt ihm aber auch, wie dringend er des Herrn bedarf, dessen Gnade, Güte und Treue unerschöpflich sind. FG1 391.2
Obwohl das Gesetz die Strafe für die Sünde nicht abwenden kann, sondern den Sünder mit der ganzen Schwere seiner Schuld belastet, hat Christus denen, die reuevoll umkehren und seiner Gnade vertrauen, volle Vergebung verheißen. So wird Gottes Liebe allen, die bereuen und glauben, in ihrer ganzen Fülle dargereicht. Die durch die Sünde erfolgte Prägung unseres Wesens kann allein durch das Blut des Sühnopfers getilgt werden. Und dazu bedurfte es keines geringeren Opfers als des Opfers dessen, der eins mit dem Vater ist. Christi Dienst — sein Leben der Demütigung auf Erden, sein Sterben und nun sein Eintreten vor Gott für die Verlorenen — verherrlicht das Gesetz und verleiht ihm alle Ehre. FG1 391.3
In vielen Predigten über die Forderungen des Gesetzes ist Christus ausgespart worden, und dieser Mangel hat die verkündigte Wahrheit im Hinblick auf die Gewinnung von Seelen unwirksam gemacht. Ohne Christi Gnade kann man auch nicht einen Schritt des Gehorsams gegenüber dem Gesetz Gottes tun. Wie nötig ist es doch, daß der Sünder von der Liebe und Kraft seines Erlösers und himmlischen Freundes erfährt! Der Bote Christi muß die Forderungen des Gesetzes deutlich werden lassen, gleichzeitig jedoch seinen Zuhörern begreifbar machen, daß niemand ohne das versöhnende Blut Jesu Christi gerechtfertigt werden kann. Ohne Christus gibt es nur Verdammung und ein furchtbares Warten auf ein schreckliches Gericht, verbunden mit der ewigen Verbannung aus der Gegenwart Gottes. Doch wem die Augen für Christi Liebe geöffnet worden sind, der wird Gottes Charakter erkennen, wie er wirklich ist: voller Liebe und Mitgefühl. Gott wird ihm nicht wie ein unbarmherziger Tyrann vorkommen, sondern wie ein Vater, der sich danach sehnt, seinen verlorenen Sohn in die Arme zu schließen. Der Sünder wird mit dem Psalmisten ausrufen: “Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, die ihn fürchten.” Psalm 103,13. Alle Verzweiflung wird von der Seele genommen, wenn Christus in seinem wahren Charakter erkannt wird. FG1 392.1
Einige unserer Brüder haben die Befürchtung geäußert, daß wir das Thema der Gerechtigkeit aus dem Glauben zu sehr betonen würden. Ich hoffe und bete darum, daß sich niemand ohne Grund alarmiert fühlen möge; denn es ist durchaus kein Risiko, diese Lehre so darzubieten, wie sie in der Schrift dargelegt wird. Wäre man in der Vergangenheit nicht darin nachlässig gewesen, Gottes Volk ordnungsgemäß zu unterweisen, wäre es jetzt nicht notwendig geworden, besonders darauf aufmerksam zu machen ... Die “teuren und allergrößten Verheißungen”, die uns in der Heiligen Schrift geschenkt sind, hat man großenteils außer acht gelassen, gerade so, wie es den Plänen des Feindes aller Gerechtigkeit entsprach. Er hat seinen dunklen Schatten zwischen Gott und uns geworfen, damit uns das wahre Wesen Gottes verborgen bliebe. Der Herr aber hat sich selbst vorgestellt als “barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue”. 2.Mose 34,6. FG1 392.2
Einige haben mir geschrieben und gefragt, ob die Lehre von der Gerechtigkeit durch den Glauben die dreifache Engelsbotschaft sei. Ich habe ihnen geantwortet: “Es ist in Wahrheit die dreifache Engelsbotschaft.” The Review and Herald, 1. April 1890. FG1 393.1