Im Sanatorium, Kalifornien
8. Juli 1906
Lieber Bruder,
manche Leute bilden sich ein, Stellenwert und Bedeutung der Arbeit, die der Herr mir aufgetragen hat, beurteilen zu können. Der Maßstab, den sie an die Zeugnisse anlegen, ist ihr eigener Verstand und ihr Urteilsvermögen. FG1 51.1
Mein Lehrer sagte mir: “Sage diesen Leuten, daß Gott sie nicht beauftragt hat, den Stellenwert der Zeugnisse zu bestimmen, sie einzuordnen und über sie zu urteilen.” Wer das versucht, zieht mit Sicherheit die falschen Schlüsse. Der Herr möchte, daß jeder die Arbeit tut, die ihm zugewiesen ist. Wer dem Weg des Herrn folgt, wird klar erkennen können, daß das Werk, das er mir übertragen hat, nicht auf menschlicher Erfindung beruht. FG1 51.2
Wer die Zeugnisse sorgfältig liest, so wie sie von Anfang an bis heute erschienen sind, braucht sich über ihren Ursprung nicht den Kopf zu zerbrechen. Die vielen Bücher, die mit Hilfe des Heiligen Geistes geschrieben wurden, sprechen eine deutliche Sprache, was den Stellenwert der Zeugnisse anbelangt. FG1 51.3
In den Anfangstagen der Botschaft kam der Geist Gottes häufig über einige von uns, wenn wir uns versammelt hatten, und ich wurde von einer Vision ergriffen. Der Herr schenkte uns so viel Licht und Klarheit, so viel Trost, Hoffnung und Freude, daß wir ihn aus vollem Herzen lobten. FG1 51.4
Als mein Mann noch lebte, stand er mir mit Rat und Tat zur Seite, wenn ich die Botschaften auszusenden hatte, die mir übermittelt worden waren. Wir waren sehr viel unterwegs. Manchmal erhielt ich nachts Botschaften von Gott, manchmal auch am Tage, wenn ich vor einer großen Versammlung stand. Alles, was mir in Visionen gezeigt und gesagt wurde, schrieb ich gewissenhaft auf, soweit meine Zeit und meine Kräfte das gerade erlaubten. Anschließend gingen mein Mann und ich die Niederschriften sorgfältig durch. Er berichtigte alle Grammatikfehler und strich überflüssige Wiederholungen. Dann wurde es sorgfältig abgeschrieben und entweder der Person, an die die Botschaft gerichtet war, zugesandt oder in Druck gegeben. FG1 51.5
Als immer mehr Arbeit auf mich zukam, halfen mir andere, Material für die Veröffentlichung vorzubereiten. Nach dem Tod meines Mannes fanden sich treue Helfer, die unermüdlich Zeugnisse abschrieben und Artikel satzfertig machten. FG1 52.1
Allen Gerüchten zum Trotz, die im Umlauf sind, stimmt es jedoch nicht, daß auch nur einer meiner Helfer die Freiheit hatte, den Botschaften, die ich niederschrieb, etwas hinzuzufügen oder etwas an ihrer inhaltlichen Aussage zu ändern. FG1 52.2
Während unseres Aufenthaltes in Australien forderte der Herr mich dazu auf, W.C. White*ein Sohn Ellen G. Whites von den vielen Aufgaben freizuhalten, die ihm von der Gemeinde aufgebürdet worden waren und noch werden sollten. Er sollte dadurch in die Lage versetzt werden, mich besser bei der Arbeit zu unterstützen, die der Herr mir anvertraut hat. Mir wurde versprochen: “Ich werde meinen Geist auf ihn legen und ihm Weisheit schenken.” FG1 52.3
Seit meiner Rückkehr nach Amerika teilte der Herr mir mehrfach mit, daß er mir W.C. White als Helfer zur Seite gestellt habe und daß er ihn für diese Aufgabe mit seinem Geist erfüllen würde. FG1 52.4
Es erfordert große Weisheit und ein gesundes, durch Gottes Geist geschärftes Urteilsvermögen, um die Unterweisungen, die mir gegeben werden, zum richtigen Zeitpunkt und auf angemessene Art und Weise weiterzugeben. Wenn die Menschen, die zurechtgewiesen werden, in ihrem Irrtum gefangen sind, weisen sie das Zeugnis selbstverständlich zurück. Und wenn sie erst einmal eine ablehnende Haltung eingenommen haben, wird es nur um so schwerer für sie, später doch noch zuzugeben, daß sie im Unrecht waren. FG1 52.5
Zu Anfang waren öfter leitende Brüder anwesend, wenn mir Gottes Botschaften übermittelt wurden. Dann berieten wir uns mit ihnen, wie die Botschaften am besten an die Gläubigen weitergegeben werden sollten. Manchmal beschlossen wir, bestimmte Teile lieber nicht einer Versammlung vorzulesen. Manchmal bat uns auch jemand, dessen Verhalten getadelt wurde: Lest die Botschaften, in denen meine Fehler und die Gefahr, in der ich stehe, angesprochen werden, auch anderen vor, damit auch sie Nutzen daraus ziehen können. FG1 53.1
Häufig bekannten Zurechtgewiesene ehrlich ihre Sünden, nachdem ein Zeugnis an sie ergangen war. Dann beteten wir miteinander, und der Herr bekundete allen, die ihre Sünden bekannt hatten, seine vergebende Gnade. Durch die bereitwillige Annahme der Zeugnisse wurden unsere Versammlungen reich gesegnet. FG1 53.2
Ich bemühe mich gewissenhaft darum, alles niederzuschreiben, was mir von Zeit zu Zeit von meinem göttlichen Berater mitgeteilt wird. Manches von dem, was ich schreibe, wird sofort weitergeleitet, weil es ganz aktuell im Werk gebraucht wird. Anderes halte ich zurück, bis die Zeit reif ist und ich erkenne: Jetzt wird das Geschriebene gebraucht. Manche Prediger und Ärzte in verantwortlicher Stellung neigen dazu, die Zeugnisse einfach vom Tisch zu fegen. Mir wurde gesagt, ich solle ihnen keine Zeugnisse übermitteln. Sie haben sich nämlich dem Geist geöffnet, der Adam und Eva versuchte und besiegte, und sind dadurch unter die Kontrolle des Feindes geraten. Weil sie auf einer falschen Spur sind und irrige Vorstellungen hegen, würden sie nur Dinge in die Zeugnisse hineinlesen, die nicht darin stehen, die jedoch die falschen Behauptungen stützen, auf die sie gehört haben. Sie gehen mit einer vorgefaßten Meinung an die Zeugnisse heran. Deshalb gehen sie selbst in die Irre und werden auch andere irreführen. FG1 53.3
Manchmal, wenn ich einen klaren, deutlichen Tadel niedergeschrieben habe, halte ich diesen eine Zeitlang zurück, um zunächst durch persönliche Briefe zu versuchen, den Sinn der Menschen zu ändern, denen der Tadel gilt. Zeigen diese Bemühungen keinen Erfolg, dann schicke ich ihnen die massive Warnung oder den strengen Tadel, den ich erhalten habe, unabhängig davon, ob sie darauf hören oder die Botschaft als falsch zurückweisen. FG1 53.4
Wenn Menschen auf ihre Fehler hingewiesen werden und sich dazu bekennen, kann der Bann des Bösen gebrochen werden. Wenn sie ihre Sünden bereuen und lassen, ist Gott treu und gerecht, daß er ihnen die Sünden vergibt und sie von aller Ungerechtigkeit reinigt. Christus, der Erlöser von aller Schuld, wird ihnen die schmutzigen Kleider ausziehen, ihnen saubere Kleider anziehen und ihnen eine leuchtende Krone auf das Haupt setzen. Solange sie sich aber weigern, von ihrem Unrecht abzulassen, kann sich ihr Charakter nicht so entwickeln, daß sie am Tage des Gerichts bestehen können. FG1 54.1
Oft wird mir verstecktes Unrecht im Leben einzelner gezeigt, und ich bin genötigt, Zurechtweisungen und Warnungen weiterzugeben. FG1 54.2
Mir wurde gesagt, daß viele, die auf die fälschlich so genannte Erkenntnis des Feindes hören, mich als falschen Propheten darstellen würden. Sie würden die Zeugnisse so auslegen, als verdrehten diese die Wahrheit Gottes zur Lüge. Satan ist auf der Hut, und er wird so manche, die in der Vergangenheit für Gott tätig waren, nun aber in die Irre gehen, dazu bringen, die Botschaften zu mißbrauchen. Weil sie ihre Ohren vor dem Tadel verschließen, weil sie Ratschläge in den Wind schlagen, statt ihr Verhalten zu ändern und die ihnen anvertraute Arbeit zu tun, werden sie die Botschaften an die Gemeinde mißdeuten und viele in Verwirrung stürzen. FG1 54.3
Trotzdem muß ich die Botschaften, die mir gegeben worden sind, übermitteln, solange der Herr es will. Er hat mich nicht beauftragt, alle Mißverständnisse auszuräumen, die von Leuten gehegt werden, die nicht glauben wollen. Solange dem Versucher für seine Einflüsterungen sozusagen die Türen offenstehen, werden mehr und mehr Probleme auftauchen. Wer das Licht nicht sehen will, lädt den Zweifel ein, sich festzusetzen. Wenn ich meine Zeit und meine Kraft auf solche Dinge verschwende, dient das nur Satans Zwecken. Der Herr hat mir gesagt: “Übermittle die Zeugnisse. Probleme auszuräumen ist nicht deine Aufgabe; deine Aufgabe ist es, Menschen zurechtzuweisen und ihnen die Gerechtigkeit Christi vor Augen zu führen.” FG1 54.4
Irgendwann in den Anfangstagen der Botschaft tauchten bei Bruder Butler und Bruder Hart Zweifel an den Zeugnissen auf. Sie litten sehr darunter und weinten viel, weigerten sich aber eine Zeitlang, die Gründe für ihre Verunsicherung zu nennen. Nachdem sie wieder und wieder inständig darum gebeten worden waren, zu erklären, warum sie so kritisch redeten und handelten, verwies Bruder Hart auf eine kleine Broschüre. Er sagte, diese enthalte angeblich die Visionen Schwester Whites; er wisse aber sicher, daß darin manche Visionen fehlten. Vor einer großen Zuhörerschaft gaben die beiden Brüder deutlich zu verstehen, daß ihr Vertrauen in das Werk am Schwinden sei. FG1 55.1
Mein Mann reichte Bruder Hart die kleine Broschüre und bat ihn, den Titel vorzulesen: “A Sketch of the Christian Experience and Views of Mrs. E.G. White”*“Ein Auszug aus den christlichen Erfahrungen und Gesichten von E. G. White” , las er. FG1 55.2
Einen Moment war es ganz still. Dann erklärte mein Mann, daß wir nur wenig Geld gehabt hatten und deshalb zunächst nicht mehr als eine kleine Broschüre drucken lassen konnten. Er versprach den Brüdern jedoch, daß die Visionen vollständiger und in Buchform veröffentlicht werden würden, sobald die nötigen Mittel aufgebracht wären. FG1 55.3
Bruder Butler war tief bewegt. Nach dieser Erklärung sagte er: “Laßt uns vor Gott die Knie beugen.” Dann wurden unter Tränen Gebete gesprochen und Bekenntnisse abgelegt, wie wir das selten erlebt haben. FG1 55.4
Bruder Butler sagte: “Vergib mir, Bruder White. Ich hatte Angst, ihr würdet uns Licht vorenthalten, das uns zugedacht ist. Vergib mir, Schwester White.” Dann kam in wunderbarer Weise die Kraft Gottes über die Versammlung. The Writing and Sending Out of the Testimonies to the Church 3-9. FG1 55.5