Israel wurde im Namen und durch die Autorität Gottes regiert. Moses Aufgabe war es, mit den siebzig Ältesten, den Obersten und Richtern Gottes Gesetzen Geltung zu verschaffen; neue zu geben, hatten sie kein Recht. Das war und blieb die Bedingung für Israels Existenz als Volk. Von einem Jahrhundert zum andern sandte Gott ihnen geistgesalbte Männer, um sie zu unterrichten und über die Anwendung der Gesetze zu belehren. PP 587.1
Der Herr sah voraus, daß sich Israel einen König wünschen würde, aber er willigte in keine Änderung der Grundsätze ein, auf denen der Staat beruhte. Der König sollte der Stellvertreter des Höchsten sein. Gott wurde als Haupt der Nation anerkannt, und sein Gesetz galt im Lande als oberstes Recht. PP 587.2
Nach der Niederlassung in Kanaan bekannten sich die Israeliten noch einmal zu den Grundsätzen der Theokratie (Gottesherrschaft), und sie lebten unter Josuas Regentschaft in Wohlstand. Aber die Bevölkerungszunahme und der Umgang mit andern Nationen änderten die Lage. Sie übernahmen viele Gewohnheiten ihrer heidnischen Nachbarn und gaben damit weitgehend ihre völkischen Eigenarten preis. Allmählich verloren sie die Ehrfurcht vor Gott und wußten ihre Vorzugsstellung als sein auserwähltes Volk nicht mehr zu schätzen. Angezogen von dem Prunk und Aufwand der heidnischen Fürsten, wurde ihnen ihre Einfachheit leid. Eifersucht und Neid keimten zwischen den Stämmen auf; innere Streitigkeiten schwächten sie. Dazu kam, daß sie ständig dem Eindringen ihrer heidnischen Feinde ausgesetzt waren und der Gedanke im Volk um sich griff: Wenn wir unsere Stellung unter den Völkern behaupten wollen, müssen sich alle Stämme unter einer starken Zentralregierung vereinigen. In dem Maße, wie sie vom Gehorsam gegen Gottes Gesetz abwichen, wollten sie auch von der Herrschaft ihres göttlichen Oberherrn frei sein. So wuchs das Verlangen nach einem König in Israel. PP 587.3
Seit Josua war die Regierung nicht mit soviel Umsicht und Erfolg geführt worden wie unter Samuel. Gott hatte ihn mit dem dreifachen Amt des Richters, Priesters und Propheten betraut. Und er arbeitete mit so unermüdlichem, selbstlosem Eifer für das Wohlergehen des Volkes, daß es ihm unter seiner klugen Führung gut ging. Die Ordnung war wiederhergestellt, die Frömmigkeit nahm zu, und der Geist der Unzufriedenheit verstummte eine Zeitlang. Aber mit zunehmendem Alter war der Prophet genötigt, die Regierungssorgen mit andern zu teilen, und er bestimmte seine beiden Söhne dazu, ihn zu entlasten. Während Samuel seine Amtspflichten weiter in Rama versah, wies er den beiden jungen Männern Beerseba zu, um an der Südgrenze des Landes unter dem Volk Recht zu sprechen. PP 588.1
Samuel setzte seine Söhne mit uneingeschränkter Zustimmung des Volkes ein, aber es stellte sich bald heraus, daß sie der väterlichen Wahl nicht würdig waren. Der Herr hatte den Obersten seines Volkes durch Mose genaue Anweisungen gegeben, wie sie Israel gewissenhaft richten, vor allem Witwen und Waisen gerecht behandeln und sich nicht bestechen lassen sollten. Aber Samuels Söhne “suchten ihren Vorteil und nahmen Geschenke und beugten das Recht”. 1.Samuel 8,3. Sie beachteten die Vorschriften nicht, die er ihnen einzuprägen versucht hatte, noch weniger nahmen sie sich das reine, selbstlose Leben ihres Vaters zum Vorbild. Andererseits wirkte die Warnung an Eli nicht in dem wünschenswerten Maße auf Samuel. Auch er war viel zu nachsichtig mit seinen Söhnen gewesen, und die Folgen zeigten sich jetzt in ihrem Charakter und Lebenswandel. PP 588.2
Die Ungerechtigkeit dieser Richter verursachte viel Unzufriedenheit und bot den gewünschten Vorwand für die Änderung, nach der sie insgeheim schon lange suchten. “Da versammelten sich alle Ältesten Israels und kamen nach Rama zu Samuel und sprachen zu ihm: Siehe, du bist alt geworden, und deine Söhne wandeln nicht in deinen Wegen. So setze nun einen König über uns, der uns richte, wie ihn alle Heiden haben.” 1.Samuel 8,4.5. Leider hatte Samuel nie etwas von den Rechtsbrüchen im Volk gehört. Wäre ihm das üble Treiben seiner Söhne bekannt gewesen, hätte er sie sofort abgesetzt; aber das wollten die Bittsteller ja gar nicht. Samuel durchschaute, daß deren wahre Beweggründe Unzufriedenheit und Stolz waren; ihr Begehren entsprang einer wohlüberlegten, beschlossenen Absicht. Man erhob dabei keineswegs Klage gegen ihn selbst. Die Lauterkeit seiner klugen Verwaltung erkannten alle an, und doch sah der bejahrte Prophet in der Forderung Kritik an sich selbst und das offene Bestreben, ihn abzusetzen. Aber er ließ sich nichts anmerken. Er machte ihnen auch keine Vorwürfe, sondern trug die Angelegenheit dem Herrn im Gebet vor und erbat von ihm allein Rat. PP 588.3
Der Herr sprach zu Samuel: “Gehorche der Stimme des Volks in allem, was sie zu dir gesagt haben; denn sie haben nicht dich, sondern mich verworfen, daß ich nicht mehr König über sie sein soll. Sie tun dir, wie sie immer getan haben von dem Tage an, da ich sie aus Ägypten führte, bis auf diesen Tag, daß sie mich verlassen und andern Göttern gedient haben.” 1.Samuel 8,7.8. Das war eine Zurechtweisung, weil der Prophet Israels Verhalten als persönliche Kränkung empfand. Aber diese Geringschätzung galt ja nicht ihm, sondern ganz offenkundig der Autorität Gottes, der die Obersten seines Volkes eingesetzt hatte. Wer aber treue Diener Gottes ablehnt, verachtet nicht nur sie, sondern den Meister, der sie gesandt hat. Es sind Gottes Worte, seine Ermahnungen und Ratschläge, die in den Wind geschlagen werden, man verwirft seine Autorität. PP 589.1
Die Zeiten des größten Wohlstandes in Israel waren jene gewesen, in denen sie sich zu Jahwe als ihrem König bekannten, als sie die von ihm verordneten Gesetze samt der Regierungsform denen der andern Völker als überlegen ansahen. Mose hatte ihnen gesagt: “Dadurch werdet ihr als weise und verständig gelten bei allen Völkern, daß, wenn sie alle diese Gebote hören, sie sagen müssen: Ei, was für weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk!” 5.Mose 4,6. Aber weil die Hebräer davon abwichen, wurden sie nicht zu dem Volke, das Gott aus ihnen machen wollte. Dennoch schrieben sie die bösen Folgen ihrer Sünden und Torheiten der von Gott eingesetzten Regierung zu; dermaßen verblendet waren sie durch die Sünde. PP 589.2
Der Herr hatte durch seine Propheten zuvor gesagt, daß Israel einmal von einem König beherrscht werden würde. Aber daraus folgt noch nicht, daß diese Regierungsform die beste für sie war oder gar dem Willen Gottes entsprach. Als das Volk sich weigerte, seinem Rat zu gehorchen, überließ er ihm die Wahl. “Ich gebe dir Könige in meinem Zorn”, ließ der Herr einst durch Hosea verkündigen. Hosea 13,11. Wenn Menschen durchaus eigene Wege gehen wollen, ohne Gott um Rat zu fragen oder im Widerspruch zu seinem offenbarten Willen, gewährt er ihnen oft ihre Wünsche, damit sie durch die folgenden bitteren Erfahrungen zur Einsicht ihrer Torheit und zur Reue über ihre Sünden kommen. Hochmut ist bei aller menschlichen Klugheit oft ein gefährlicher Führer. Was das Herz gegen den Willen Gottes begehrt, wird sich zuletzt als Fluch und nicht als Segen erweisen. PP 589.3
Gott wünschte, daß sein Volk in ihm den alleinigen Gesetzgeber und die Quelle der Kraft sehen sollte. Im Bewußtsein dieser Abhängigkeit würde es sich zu ihm hingezogen fühlen und jede hohe Gesinnung haben, die es befähigte, gemäß seiner Bestimmung Gottes auserwähltes Volk zu sein. Aber bestieg ein König den Thron, mußte sie das Gott entfremden. Sie würden mehr auf menschliche Leistungen denn auf Gottes Hilfe bauen. Die Fehler ihres Königs würden sie in Sünde verstricken und sie als Volk von Gott trennen. PP 590.1
Samuel erhielt die Anweisung, ihrer Bitte zu entsprechen, sie aber vor der Mißbilligung des Herrn zu warnen und ihnen auch die Folgen ihres Verlangens klarzumachen. “Samuel sagte alle Worte des Herrn dem Volk, das von ihm einen König forderte.” 1.Samuel 8,10. Gewissenhaft setzte er ihnen auseinander, welche Lasten sie mit solcher bedrückenden Staatsform auf sich nehmen müßten im Vergleich zu ihrem derzeitigen, verhältnismäßig unabhängigen und wohlhabenden Zustand. Ein König würde an Prunk und Aufwand anderen Herrschern nicht nachstehen wollen. Und um dergleichen aufrechtzuerhalten, waren bittere personelle und wirtschaftliche Forderungen unvermeidlich. Die ansehnlichsten jungen Männer brauchte er dann für seine Dienste als Wagenlenker, Reiter und Läufer. Sie müßten die Reihen des Heeres füllen, seine Felder bestellen, seine Ernte einbringen und Kriegsgerät für seinen Dienst herstellen. Israels Töchter hätten im königlichen Haushalt Zuckerwerk und Backwaren zu bereiten. Zur Bestreitung seines Hofstaates nähme er ihre besten Ländereien, die ihnen Jahwe selbst verliehen hatte. Auch ihre tüchtigsten Knechte und ihr Vieh würde er ihnen fortnehmen und “in seinen Dienst stellen”, außerdem den Zehnten all ihres Einkommens, ihrer Arbeitserzeugnisse oder Bodenfrüchte verlangen. “Ihr müßt seine Knechte sein”, schloß der Prophet, aber “wenn ihr dann schreien werdet zu der Zeit über euren König ..., so wird euch der Herr zu derselben Zeit nicht erhören.” 1.Samuel 8,16-18. Wie drückend sie dann seine Ansprüche empfinden würden, war das Königtum erst einmal errichtet, konnten sie es nicht nach Belieben wieder abschaffen. PP 590.2
Aber das Volk gab wieder zur Antwort: “Nein, sondern ein König soll über uns sein, daß wir auch seien wie alle Heiden, daß uns unser König richte und vor uns ausziehe und unsere Kriege führe!” 1.Samuel 8,19.20. PP 591.1
“Wie alle Heiden.” Israel begriff nicht, welch außergewöhnlicher Segen und Vorzug es war, diesbezüglich anderen Völkern nicht zu gleichen. Gott hatte sie aus ihrer Umgebung herausgeführt, um sie zu seinem besonderen Eigentum zu machen. Sie aber wußten das nicht zu schätzen und begehrten ungeduldig, es den Heiden gleichzutun. Und dieses Verlangen, sich weltlichen Sitten und Gewohnheiten anzupassen, besteht noch immer bei dem vorgeblichen Volke Gottes. Sobald sie sich aber innerlich vom Herrn abkehren, erstreben sie Vorteile und Ehrenstellungen in dieser Welt. Auch Christen möchten oft die Gepflogenheiten derjenigen mitmachen, die den Gott dieser Welt anbeten. Viele betonen dann nachdrücklich, sie könnten auf Gottferne einen viel stärkeren Einfluß ausüben, wenn sie sich ihnen anpaßten. Aber wer solche Wege geht, trennt sich von der Quelle seiner Kraft. Wer der Welt Freund werden will, ist Gottes Feind. Um irdischer Vorteile willen geben manche die ehrenvolle Aufgabe daran, zu der Gott sie berief, die Wohltaten dessen zu verkündigen, der uns “von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht” berufen hat. 1.Petrus 2,9. PP 591.2
Tieftraurig hörte Samuel die Worte des Volkes; aber der Herr sprach zu ihm: “Gehorche ihrer Stimme und mache ihnen einen König.” 1.Samuel 8,22. Der Prophet hatte seine Schuldigkeit getan. Gewissenhaft hatte er sie gewarnt, aber sie wiesen alles zurück. Schweren Herzens entließ er sie und brach auf, um die wichtige Veränderung in der Regierungsform vorzubereiten. Samuels makelloses Leben der Hingabe war für die eigennützigen Priester und Ältesten wie für das hochmütige, sinnenfreudige Israel ein ständiger Vorwurf. Auch ohne Prunkentfaltung oder irgendwelchen Aufwand trug seine Arbeit das Siegel des Himmels. Ihn würdigte der Erlöser der Welt, unter dessen Leitung er das hebräische Volk regierte. Aber das Volk war seiner Frömmigkeit und seines Eifers müde geworden. Sein bescheidenes Auftreten erschien ihm verächtlich. Es verlangte einen Mann, der es als König regierte. PP 591.3
Im Charakter Samuels spiegelte sich das Bild Christi, dessen Reinheit Satans Zorn erregte. Unser Heiland war das Licht der Welt, und er offenbarte die verborgene Bosheit in den Menschenherzen. Seine Heiligkeit löste heftige Zornesäußerungen bei den unaufrichtigen Frommen aus. Christus kam nicht mit dem Reichtum und den Würden dieser Erde, doch zeigte sein Wirken, daß er größere Macht besaß als irgendein irdischer Fürst. Die Juden erwarteten einen Messias, der das Joch ihrer Unterdrücker brechen sollte, aber die eigentliche Ursache der Knechtschaft, ihre Sünden, stellten sie nicht ab. Hätte Christus ihre Schuld bemäntelt und sie um ihrer Frömmigkeit willen gelobt, wäre er ihnen wohl als König willkommen gewesen. Aber das furchtlose Anprangern ihrer Untugenden konnten sie nicht ertragen. Sie verachteten den liebenswerten Menschen, in dem nur Wohlwollen, Reinheit und Frömmigkeit lebten, und der keinen Haß kannte außer den gegen die Sünde. So war es zu allen Zeiten. Das Licht von oben spricht jeden schuldig, der nicht darin wandeln will. Das Vorbild derer, die die Sünde verabscheuen, empfinden Heuchler als Vorwurf. Darum werden sie zu Satans Helfershelfern, indem sie die Gläubigen fortwährend beunruhigen und verfolgen. “Alle, die gottesfürchtig leben wollen in Christus Jesus, müssen Verfolgung leiden.” 2.Timotheus 3,12. PP 592.1
Obwohl die Prophetie eine monarchische Regierungsform für Israel vorhergesagt hatte, behielt sich Gott vor, ihren König zu bestimmen. Und die Hebräer achteten Gottes Autorität noch so weit, daß sie ihm die Wahl allein überließen. Sie fiel auf Saul, einen Sohn des Kis aus dem Stamme Benjamin. PP 592.2
Die äußere Beschaffenheit des künftigen Herrschers war so, daß sie das stolze Selbstgefühl, das nach einem König verlangte, befriedigte. “Es war niemand unter den Kindern Israel so schön wie er.” 1.Samuel 9,2. Mit seiner edlen, würdevollen Haltung, dazu hübsch und hoch gewachsen, in der Blüte des Lebens, sah er aus wie zum Befehlen geboren. Doch bei allen äußerlichen Reizen fehlte es Saul an jenen inneren Werten, die wahre Klugheit ausmachen. Er hatte in jungen Jahren nicht gelernt, unbesonnene, heftige Gefühlsausbrüche zu bezähmen, nie die erneuernde Kraft göttlicher Gnade erfahren. PP 592.3
Saul war der Sohn eines mächtigen, reichen Stammesfürsten; doch betrieb er, der Einfachheit jener Zeit entsprechend, mit seinem Vater eine Landwirtschaft. Eines Tages verirrten sich einige von ihren Tieren im Gebirge, und Saul ging mit einem Knecht auf die Suche. Drei Tage lang forschten sie vergeblich nach ihnen. Als sie in die Nähe von Rama, Samuels Heimat, kamen, schlug der Knecht vor, den Propheten nach dem vermißten Eigentum zu fragen. “Ich hab einen Viertel-Silbertaler bei mir”, sagte er, “den wollen wir dem Mann Gottes geben, daß er uns unsern Weg sage.” 1.Samuel 9,8. Das entsprach der Sitte der Zeit. Wenn man eine im Rang oder Amt höhere Person ansprach, machte man ihr als Ausdruck der Hochachtung ein kleines Geschenk. PP 593.1
Als sie sich der Stadt näherten, begegneten ihnen ein paar junge Mädchen, die Wasser schöpfen wollten; die fragten sie nach dem Seher. Sie erwiderten, es werde gleich ein Gottesdienst stattfinden, und der Prophet sei schon angekommen. Auf der “Höhe” werde ein Opfer dargebracht, und danach fände ein Fest statt. Unter Samuels Amtsführung war eine große Veränderung vor sich gegangen. Zu der Zeit, als Gott ihn berief, wurden die Opfer am Heiligtum geringschätzig angesehen. “Sie verachteten das Opfer des Herrn.” Aber jetzt wurde die Anbetung Gottes im ganzen Lande hochgehalten, und das Volk nahm regen Anteil am religiösen Leben. Da es keinen Dienst an der Stiftshütte gab, wurden die Opfer anderwärts dargebracht, in den Städten der Priester und Leviten, wo das Volk Belehrung suchte. Aber im allgemeinen wählte man die höchsten Erhebungen als Opferstätten, daher nannte man sie “Höhen”. PP 593.2
Am Stadttor traf Saul den Propheten selbst. Gott hatte Samuel offenbart, daß sich der erwählte König Israels um diese Zeit bei ihm einfinden würde. Als sie sich nun Auge in Auge gegenüber standen, sprach der Herr zu Samuel: “Siehe, das ist der Mann, von dem ich dir gesagt habe, daß er über mein Volk herrschen soll.” PP 593.3
Auf Sauls Bitte “Sage mir, wo ist hier das Haus des Sehers?” erwiderte Samuel: “Ich bin der Seher.” Er versicherte ihm auch, daß die verlorenen Tiere gefunden seien, und nötigte ihn, zu bleiben und das Fest zu besuchen. Gleichzeitig deutete er ihm seine bevorstehende hohe Bestimmung an: “Wem gehört denn alles, was wertvoll ist in Israel? Gehört es nicht dir und dem ganzen Hause deines Vaters?” Der Aufhorchende erbebte bei den Worten des Propheten. Er ahnte ihre Bedeutung, denn die Frage nach einem König war für das ganze Volk zu einer überaus wichtigen Angelegenheit geworden. Doch in bescheidener Selbstunterschätzung erwiderte Saul: “Bin ich nicht ein Benjamiter und aus einem der kleinsten Stämme Israels, und ist nicht mein Geschlecht das geringste unter allen Geschlechtern des Stammes Benjamin? Warum sagst du mir solches?” 1.Samuel 9,17-21. PP 593.4
Samuel führte den Fremdling zum Versammlungsplatz, wo die Stadtoberhäupter beisammen waren. Auf Anordnung des Propheten räumte man Saul den Ehrenplatz ein und setzte ihm beim Festmahl das erlesenste Stück vor. Nach dem Gottesdienst nahm Samuel seinen Gast mit nach Hause und unterhielt sich lange mit ihm. Er erklärte ihm die wichtigsten Grundsätze, auf denen Israels Regierung beruhte, und suchte ihn bis zu einem gewissen Grade auf seine hohe Stellung vorzubereiten. PP 594.1
Als Saul am andern Morgen in der Frühe aufbrach, begleitete ihn der Prophet. Nachdem sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, gebot er dem Diener, vorauszugehen. Dann hieß er Saul stillzustehen und eine Botschaft von Gott zu empfangen. “Da nahm Samuel den Krug mit Öl und goß es auf sein Haupt und küßte ihn und sprach: Siehe, der Herr hat dich zum Fürsten über sein Erbteil gesalbt.” 1.Samuel 10,1. Zum Beweis, daß dies aus göttlicher Vollmacht geschah, sagte er ihm voraus, was sich auf dem Heimweg ereignen würde, und gab Saul die Zusicherung, der Geist Gottes werde ihn für das zu erwartende Amt befähigen. “Der Geist des Herrn wird über dich kommen”, sagte der Prophet, “da wirst du umgewandelt und ein anderer Mensch werden. Wenn bei dir nun diese Zeichen eintreffen, so tu, was dir vor die Hände kommt; denn Gott ist mit dir.” 1.Samuel 10,6.7. PP 594.2
Als Saul seines Weges ging, traf alles so ein, wie der Prophet es gesagt hatte. Am Grenzgebiet von Benjamin bekam er die Nachricht, die verlorenen Tiere seien gefunden. Dann traf er in der Ebene von Tabor drei Männer, die zur Anbetung nach Bethel gingen. Einer von ihnen zog drei Opferlämmer hinter sich her, der andere trug drei Laibe Brot und der dritte einen Krug mit Wein für das Opferfest. Sie boten Saul den üblichen Gruß und schenkten ihm zwei von den drei Broten. Bei Gibea, seiner Heimatstadt, kehrte eine Prophetenschar von der Höhe zurück und sang Loblieder mit Begleitung von Flöte und Harfe, Psalter und Pauke. Als Saul sich ihr näherte, kam der Geist des Herrn auch auf ihn; er stimmte in ihren Lobgesang ein und weissagte wie sie. Er redete so geläufig voller Weisheit und gab sich dem so inbrünstig hin, daß alle, die ihn kannten, erstaunt ausriefen: “Was ist mit dem Sohn des Kis geschehen? Ist Saul auch unter den Propheten?” 1.Samuel 10,11. PP 594.3
Während Saul gemeinsam mit den Propheten anbetete, ging durch die Wirkung des Heiligen Geistes eine große Veränderung in ihm vor sich. Das Licht göttlicher Reinheit und Heiligkeit strahlte in die Dunkelheit des von Natur sündigen Herzens. Er sah sich so, als stünde er vor Gottes Angesicht, und begriff den Wert echter Frömmigkeit. Nun war er dazu berufen, Krieg gegen Sünde und Satan zu führen, und er wurde sich bewußt, daß die Kraft dazu nur von Gott kommen konnte. Jetzt verstand er den Erlösungsplan, der ihm zuvor unklar und ungewiß erschienen war. Der Herr gab ihm Mut und Weisheit für sein hohes Amt. Er offenbarte ihm die Quelle der Kraft und Gnade und schenkte ihm Erleuchtung über die göttlichen Forderungen und über seine eigenen Pflichten. PP 595.1
Bis dahin wußte Israel noch nichts von Sauls Salbung zum König. Gottes Wahl sollte öffentlich durch das Los bekannt werden. Dazu berief Samuel das Volk nach Mizpa. Mit einem Gebet um Gottes Leitung begann die Versammlung. Dann erfolgte die feierliche Auslosung. Schweigend wartete die Menge auf das Ergebnis. Nacheinander wurden der Stamm, das Geschlecht und die Familie bezeichnet, und dann traf das Los Saul, den Sohn des Kis, als den Erwählten. Aber Saul war nicht anwesend. Angesichts der großen Verantwortung, die er künftig tragen sollte, hatte er sich unauffällig zurückgezogen. Man führte ihn herbei und bemerkte mit Stolz und Genugtuung seine königliche Haltung und die edle Gestalt, denn er “war eines Hauptes länger als alles Volk”. Sogar Samuel rief aus, als er ihn vorstellte: “Da seht ihr, wen der Herr erwählt hat; ihm ist keiner gleich im ganzen Volk.” Und die riesige Volksmenge antwortete mit einem langen, lauten Jubelruf: “Es lebe der König!” PP 595.2
Dann legte Samuel dem Volk “das Recht des Königtums” (1.Samuel 10,23-25) dar, die Grundsätze, auf denen die monarchische Regierung beruhte. Der König war kein absoluter Alleinherrscher, vielmehr blieb seine Macht abhängig vom Willen des Allerhöchsten. Diese Worte hielt Samuel in einem Buche fest, in dem die Vorrechte des Fürsten und die Rechte und Privilegien des Volkes aufgezeichnet waren. Obwohl sie sich von dem treuen Propheten nicht warnen ließen und ihn nötigten, ihren Wünschen nachzugeben, war er bemüht, ihre Freiheit soweit wie möglich zu wahren. PP 595.3
Während das Volk allgemein bereit war, Saul als König anzuerkennen, bildete sich aber auch eine starke Oppositionspartei. Ein König aus Benjamin, dem kleinsten Stamme Israels, bei Übergehung Judas und Ephraims, der größten und stärksten Stämme, das war eine Zurücksetzung, die sie nicht ertragen konnten. Sie lehnten es ab, Saul zu huldigen oder ihm die üblichen Geschenke zu bringen. Die vorher am heftigsten auf einen König gedrängt hatten, weigerten sich nun, den Mann der Wahl Gottes dankbar anzuerkennen. Jede Partei hatte eben ihren Günstling, den sie auf dem Throne sehen wollte, und gar mancher aus der Führerschaft erstrebte diese Ehre für sich selbst. In vielen entbrannten Neid und Eifersucht. Stolz und Ehrgeiz führten zu Enttäuschung und Unzufriedenheit. PP 596.1
Unter diesen Umständen sah sich Saul nicht in der Lage, die Königswürde anzunehmen. Er überließ Samuel die Regierung wie bisher und kehrte nach Gibea zurück. Eine Schar, die in seiner Erwählung Gottes Hand sah und entschlossen war, ihn zu unterstützen, gab ihm das Ehrengeleit. Aber er machte nicht den geringsten Versuch, sein Recht auf den Thron mit Gewalt durchzusetzen. Ruhig ging er daheim auf dem Hochland des Stammes Benjamin den Pflichten eines Landwirts nach und überließ die Übertragung der Amtsgewalt völlig Gott. PP 596.2
Bald nach Sauls Berufung fielen die Ammoniter unter ihrem König Nahasch in das Gebiet der Stämme östlich vom Jordan ein und bedrohten die Stadt Jabesch in Gilead. Die Bewohner versuchten den Frieden zu erlangen, indem sie den Ammonitern anboten, ihnen zinspflichtig zu werden. Aber der grausame König wollte nur unter der Bedingung darauf eingehen, daß er ihnen allen das rechte Auge ausstechen ließ, damit sie ein dauerndes Zeichen seiner Macht an sich trügen. PP 596.3
Die Einwohner der belagerten Stadt baten um eine Frist von sieben Tagen. In der Meinung, den erwarteten Triumph noch zu vergrößern, stimmten die Ammoniter zu. Aber inzwischen gingen Boten aus Jabesch zu den Stämmen westlich des Jordans und baten um Hilfe. Sie konnten auch Gibea benachrichtigen und erregten weit und breit Schrecken. Als Saul abends “vom Felde hinter den Rindern her” kam, hörte er lautes Wehklagen, das von einem großen Unglück kündete. Er fragte: “Was ist mit dem Volk, daß es weint?” Als man ihm die schmachvolle Geschichte wiederholte, erwachten alle schlummernden Kräfte in ihm. “Da geriet der Geist Gottes über Saul ... Und er nahm ein Paar Rinder und zerstückte sie und sandte davon in das ganze Gebiet Israels durch die Boten und ließ sagen: Wer nicht mit Saul und Samuel auszieht, mit dessen Rindern soll man ebenso tun.” 1.Samuel 11,5-7. PP 596.4
Darauf versammelten sich in der Ebene Besek dreihundertdreißigtausend Mann unter Sauls Befehl. Zugleich sandte man Boten zu der belagerten Stadt mit dem Versprechen, daß sie am nächsten Morgen Hilfe erwarten könnten, es war der Tag, an dem sie sich den Ammonitern unterwerfen sollten. In einem nächtlichen Eilmarsch überschritten Saul und sein Heer den Jordan und erreichten Jabesch “um die Zeit der Morgenwache”. Wie einst Gideon teilte er seine Streitmacht in drei Abteilungen und überfiel das Ammoniterlager zu so früher Stunde, da sie keine Gefahr vermuteten und auch nicht im geringsten gewappnet waren. Bei der nun folgenden Panik wurden die Feinde unter großen Verlusten in die Flucht geschlagen. “Die aber übrigblieben, wurden zerstreut, so daß von ihnen nicht zwei beieinander blieben.” 1.Samuel 11,11. PP 597.1
Sauls schnelle Entschlossenheit und Tapferkeit wie auch seine Feldherrnkunst, die er bei der erfolgreichen Führung solcher großen Streitmacht bewiesen hatte, waren Eigenschaften, die die Israeliten von einem König erwarteten, damit sie sich mit andern Völkern messen konnten. Nun begrüßten sie ihn als König und schrieben den Sieg menschlichen Fähigkeiten zu. Darüber vergaßen sie vollständig, daß ohne Gottes Segen alle ihre Anstrengungen vergeblich gewesen wären. In ihrer Begeisterung hatten einige vor, alle diejenigen zu töten, die Saul anfangs nicht anerkennen wollten. Aber der König erhob Einspruch: “Es soll an diesem Tage niemand sterben; denn der Herr hat heute Heil gegeben in Israel.” 1.Samuel 11,13. Hier bewies Saul den Wandel, der in ihm vor sich gegangen war. Anstatt den Ruhm für sich zu beanspruchen, gab er Gott die Ehre. Statt Rache zu üben, zeigte er Mitgefühl und Vergebungsbereitschaft. Solche Haltung beweist unmißverständlich, daß Gottes Gnade im Herzen wohnt. PP 597.2
Samuel machte nun den Vorschlag, eine Volksversammlung nach Gilgal einzuberufen, damit Sauls Königtum öffentlich bestätigt wurde. So geschah es; und sie “opferten Dankopfer vor dem Herrn. Saul aber und alle Männer Israels freuten sich dort gar sehr.” 1.Samuel 11,15. PP 598.1
Gilgal war das erste Lager Israels im verheißenen Land gewesen. Hier hatte Josua auf göttliche Anweisung zur Erinnerung an den wunderbaren Übergang über den Jordan das Denkmal aus zwölf Steinen errichtet. Hier erneuerten sie die Beschneidung und hielten nach der Sünde bei Kadesch und am Ende der Wüstenwanderung das erste Passafest. Hier hörte das Manna auf. Hier hatte sich der Fürst über das Heer des Herrn als oberster Feldherr der Heere Israels offenbart. Von hier brachen sie auf, um Jericho zu überwinden und Ai zu erobern. In Gilgal traf Achan die Strafe für seine Sünde; hier wurde der Vertrag mit den Gibeonitern geschlossen, wobei Israel leichtfertig versäumte, Gott um Rat zu fragen. In dieser Ebene, die mit so vielen ergreifenden Erinnerungen verknüpft war, stand Samuel mit Saul. Und als die Begrüßungsrufe für den König verklungen waren, richtete der greise Prophet als bisheriger Führer des Volkes ergreifende Abschiedsworte an die Zuhörer. PP 598.2
“Siehe”, sagte er, “ich habe eurer Stimme gehorcht in allem, was ihr mir gesagt habt, und habe einen König über euch gesetzt. Siehe, nun wird euer König vor euch herziehen; ich aber bin alt und grau geworden ... Ich bin vor euch hergegangen von meiner Jugend an bis auf diesen Tag. Hier stehe ich. Nun tretet gegen mich auf vor dem Herrn und seinem Gesalbten! Wessen Rind und Esel hab ich genommen, wem hab ich Gewalt oder Unrecht getan? Aus wessen Hand hab ich ein Geschenk angenommen, um mir damit die Augen blenden zu lassen? Ich will’s euch zurückgeben.” PP 598.3
Einstimmig antworteten sie: “Du hast uns weder Gewalt noch Unrecht getan und von niemand etwas genommen.” 1.Samuel 12,1-4. PP 598.4
Samuel suchte sich nicht bloß zu rechtfertigen. Er hatte ihnen bereits früher die Grundsätze dargelegt, die König und Volk leiten sollten. Nun wünschte er seinen Worten das Gewicht des eigenen Beispiels hinzuzufügen. Von Kind auf war er mit dem Werk Gottes verbunden gewesen, und während seines langen Lebens hatte ihm nur ein Ziel vor Augen gestanden: die Ehre Gottes und das Beste für Israel. PP 598.5
Ehe sie aber auf Wohlergehen hoffen konnten, mußten sie eine innere Umkehr erleben. Infolge der Sünde hatten sie ihren Glauben an Gott verloren, die Einsicht, daß seine Macht und Weisheit das Volk regierten, und das Vertrauen, daß er sein Werk zu schützen vermochte. Ehe sie aber wahren Frieden finden konnten, mußten sie gerade die Sünde erkennen und bekennen, wodurch sie schuldig geworden waren. Sie hatten erklärt, der Zweck ihres Verlangens nach einem König sei, “daß uns unser König richte und vor uns her ausziehe und unsere Kriege führe!” 1.Samuel 8,20. Samuel erzählte ihnen noch einmal Israels Geschichte von dem Tage an, als Gott sie aus Ägypten führte. Jahwe, der König der Könige, war vor ihnen her gezogen und hatte ihre Kriege gewonnen. Oft gerieten sie um ihrer Sünden willen in die Gewalt der Feinde. Aber sobald sie von ihren bösen Wegen ließen, erweckte Gottes Barmherzigkeit ihnen einen Befreier. Der Herr sandte Gideon und Barak, “Jephthah und Samuel und errettete euch aus der Hand eurer Feinde ringsum und ließ euch sicher wohnen”. Aber als Gefahr drohte, erklärten sie: “Ein König soll über uns herrschen, obwohl doch”. sagte der Prophet, “der Herr, euer Gott, euer König ist.” 1.Samuel 12,11.12. PP 599.1
“So tretet nun herzu”, fuhr Samuel fort, “und seht, was der Herr Großes vor euren Augen tun wird. Ist nicht jetzt die Weizenernte? Ich will aber den Herrn anrufen, daß er soll donnern und regnen lassen, damit ihr innewerdet und seht, daß ihr getan habt, was dem Herrn mißfiel, als ihr euch einen König erbeten habt. Und als Samuel den Herrn anrief, ließ der Herr donnern und regnen an demselben Tage.” Zur Zeit der Weizenernte, Mai und Juni, fiel im Morgenland kein Regen. Der Himmel war wolkenlos, die Luft klar und mild. Solch heftiges Unwetter in dieser Jahreszeit erfüllte alle mit Furcht. Nun bekannte das Volk in Demut jene Sünde, deren es sich schuldig gemacht hatte: “Bitte für deine Knechte den Herrn, deinen Gott, daß wir nicht sterben; denn zu allen unsern Sünden haben wir noch das Unrecht getan, daß wir uns einen König erbeten haben.” 1.Samuel 12,16-19. PP 599.2
Samuel ließ das Volk aber nicht entmutigt zurück, denn damit wären alle Anstrengungen um ein besseres Leben zunichte geworden. Satan hätte sie sicher so weit gebracht, Gott als streng und unversöhnlich anzusehen, und sie damit mannigfaltigen Versuchungen ausgesetzt. Gott ist gnädig und barmherzig, stets bereit, seinem Volk zu vergeben, wenn es ihm gehorchen will. “Fürchtet euch nicht!” lautete Gottes Botschaft durch seinen Diener. “Ihr habt zwar all das Unrecht getan, doch weicht nicht vom Herrn ab, sondern dienet dem Herrn von ganzem Herzen und folgt nicht den nichtigen Götzen; denn sie nützen nicht und können nicht erretten, weil sie nichtig sind. Der Herr verstößt sein Volk nicht.” 1.Samuel 12,20.21. PP 599.3
Mit keinem Wort erwähnte Samuel die geringschätzige Behandlung, die er selbst erfahren hatte; er äußerte auch keinen Vorwurf über die Undankbarkeit, mit der Israel seine lebenslange Hingabe vergolten hatte. Vielmehr versicherte er sie seiner unaufhörlichen Anteilnahme: “Es sei aber auch ferne von mir, mich an dem Herrn dadurch zu versündigen, daß ich davon abließe, für euch zu beten und euch zu lehren den guten und richtigen Weg! Nur fürchtet den Herrn und dienet ihm treu von ganzem Herzen; denn seht doch, wie große Dinge er an euch getan hat. Werdet ihr aber Unrecht tun, so werdet ihr und euer König verloren sein.” 1.Samuel 12,23-25. PP 600.1