Wenige Kilometer südlich von Jerusalem, “des großen Königs Stadt” (Matthäus 5,35), liegt Bethlehem, wo David, Isais Sohn, geboren wurde. Über tausend Jahre später lag dort das Jesuskind in einer Krippe, und die Weisen aus dem Morgenland beteten es an. Jahrhunderte vor der Ankunft des Heilandes hütete der jugendliche David seine Herden auf den Hügeln um Bethlehem. Der einfache Hirtenjunge sang mit frischer, kräftiger Stimme seine eigenen Lieder und begleitete sich dazu auf der Harfe. Des Herrn Wahl war auf David gefallen, und hier in der Einsamkeit bei den Herden bereitete er ihn für die Aufgabe vor, die er ihm später anvertrauen wollte. PP 620.1
Noch als David zurückgezogen sein schlichtes Hirtenleben führte, sprach Gott zum Propheten Samuel über ihn: “Wie lange trägst du Leid um Saul, den ich verworfen habe, daß er nicht mehr König sei über Israel? Fülle dein Horn mit Öl und geh hin: ich will dich senden zu dem Bethlehemiter Isai; denn unter seinen Söhnen hab ich mir einen zum König ersehen ... Nimm eine junge Kuh mit dir und sprich: Ich bin gekommen, dem Herrn zu opfern. Und du sollst Isai zum Opfer laden. Da will ich dich wissen lassen, was du tun sollst, daß du mir den salbest, den ich dir nennen werde. Samuel tat, wie ihm der Herr gesagt hatte, und kam nach Bethlehem. Da entsetzten sich die Ältesten der Stadt und gingen ihm entgegen und sprachen: Bedeutet dein Kommen Heil? Er sprach: Ja, es bedeutet Heil!” 1.Samuel 16,1-5. PP 620.2
Die Ältesten von Bethlehem nahmen die Einladung zum Opfer an, und Samuel rief auch Isai und seine Söhne dazu. Man errichtete den Altar und hielt das Opfer bereit. Die ganze Familie Isais war unter den Anwesenden. Nur David, den Jüngsten, hatten sie zurückgelassen; er mußte die Schafe hüten, die nicht unbewacht bleiben durften. PP 620.3
Nach Beendigung des Opfers, aber noch vor dem Genuß des Opfermahls, begann Samuel mit seiner vom Geiste Gottes geleiteten Prüfung der stattlichen Söhne Isais. Eliab, der Älteste, glich Saul nach Größe und Aussehen am meisten. Seine angenehmen Gesichtszüge und seine gutgewachsene Gestalt zogen die Aufmerksamkeit des Propheten sofort auf sich. Als er die geradezu fürstliche Haltung an ihm wahrnahm, dachte er: “Fürwahr, da steht vor dem Herrn sein Gesalbter” (1.Samuel 16,6) und erwartete die göttliche Zustimmung für ihn. Aber Jahwe sah nicht auf die äußere Erscheinung. Eliab fürchtete den Herrn nicht. Hätte er den Thron bestiegen, wäre aus ihm ein stolzer, anspruchsvoller Herrscher geworden. Gott sprach zu Samuel: “Sieh nicht an sein Aussehen und seinen hohen Wuchs; ich habe ihn verworfen. Denn nicht sieht der Herr auf das, worauf ein Mensch sieht. Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an.” 1.Samuel 16,7. Äußere Schönheit macht niemanden vor Gott angenehm. Weisheit und guter Charakter verleihen dem Menschen wahre Schönheit. Allein die inneren Werte sind entscheidende Vorzüge für unsere Annahme bei Gott. Das sollten wir sehr bedenken, wenn wir uns und andere beurteilen. Samuels Irrtum zeigt, wie nichtig eine Meinungsbildung ist, die sich von einem schönen Gesicht oder einer ansehnlichen Gestalt beeinflussen läßt. Man erkennt, wie mangelhaft menschliche Weisheit, ohne besondere Erleuchtung von oben her, die Geheimnisse des Herzens zu erfassen oder Gottes Ratschlüsse zu begreifen vermag. Gottes Gedanken und Wege mit seinen Geschöpfen gehen über unser begrenztes Verständnis hinaus. Aber wir können sicher sein, daß seine Kinder am entsprechenden Platz die ihnen anvertrauten Aufgaben erfüllen können, wenn sie sich nur dem göttlichen Willen unterstellen. Dann werden seine segensreichen Pläne nicht durch menschliche Unzulänglichkeit vereitelt. PP 621.1
Eliab schied also aus. Darauf beobachtete der Prophet mit prüfendem Blick der Reihe nach die sechs Brüder, die ebenfalls dem Opfer beigewohnt hatten. Aber bei keinem gab der Herr zu erkennen, daß er ihn erwählt habe. In schmerzlicher Ungewißheit schaute Samuel auf den letzten jungen Mann. Verwirrt und bestürzt fragte er Isai: “Sind das die Knaben alle?” Der Vater antwortete: “Es ist noch übrig der jüngste; siehe, er hütet die Schafe.” Samuel befahl, auch ihn zu rufen, und sagte: “Wir werden uns nicht wieder setzen, bis er hierherkommt.” 1.Samuel 16,11. PP 621.2
Der einsame Hirte wurde von dem unerwarteten Ruf des Boten aufgeschreckt, der ihm die Nachricht brachte, der Prophet sei nach Bethlehem gekommen und habe nach ihm gesandt. Erstaunt fragte er, weshalb der Prophet und Richter Israels gerade ihn sehen wolle; aber er gehorchte, ohne zu zögern. “Er war bräunlich, mit schönen Augen und von guter Gestalt.” Während Samuel den ansehnlichen und doch bescheiden wirkenden jungen Mann wohlgefällig betrachtete, sprach die Stimme des Herrn zu ihm: “Auf, salbe ihn, denn er ist’s.” David hatte bis dahin gewissenhaft und unerschrocken als schlichter Hirte gedient, nun erwählte ihn Gott zum Oberhaupt seines Volkes. “Da nahm Samuel sein Ölhorn und salbte ihn mitten unter seinen Brüdern. Und der Geist des Herrn geriet über David von dem Tag an und weiterhin.” 1.Samuel 16,12.13. Der Prophet hatte die ihm übertragene Aufgabe erfüllt und kehrte erleichtert nach Rama zurück. PP 622.1
Samuel hatte nicht einmal der Familie Isais die Bedeutung seines Auftrages erläutert, sondern Davids Salbung absichtlich heimlich vollzogen. Es war für den jungen Mann die Ankündigung seiner späteren hohen Bestimmung. Dieses Wissen sollte ihn bei den mannigfaltigen Erlebnissen und Gefahren der kommenden Jahre befähigen, Gottes Absicht in seinem Leben treu zu erfüllen. PP 622.2
Die erfahrene große Ehre machte David nicht stolz. Trotz der hohen Stellung, die er einmal bekleiden sollte, ging er still seiner Beschäftigung nach und wartete in Ruhe die weitere Entwicklung der göttlichen Pläne zu seiner Zeit und auf seine Weise ab. Genauso anspruchslos und bescheiden wie vor der Salbung kehrte er in die Berge zurück und hütete die Herden sorgsam wie eh und je. Aber die Melodien, die er sang und auf der Harfe begleitete, klangen jetzt anders. Vor ihm dehnte sich eine Landschaft von reicher, mannigfaltiger Schönheit. Im hellen Sonnenschein standen die Weinstöcke voller Trauben. Die belaubten Bäume neigten sich im Winde. Er sah die Sonne, die den Himmel mit Licht überflutete, hervorkommen wie einen Bräutigam aus seiner Kammer und ihren Lauf nehmen wie ein Held. Psalm 19,6. Da waren die steil aufragenden Berggipfel; in weiter Ferne erhoben sich die kahlen Gebirgsklippen Moabs; weit spannte sich der zartblaue Himmel. Und über allem war Gott. Er konnte ihn nicht sehen, aber die Werke priesen den Schöpfer. Die Morgensonne, die Wälder und Berge, Wiesen und Flüsse vergoldete, richtete die Gedanken zum Vater des Lichts empor, zu dem Geber aller guten und vollkommenen Gabe. Die tägliche Offenbarung des Wesens und der Majestät Gottes erfüllten das Herz des jungen Dichters mit Freude und Anbetung. Beim Nachsinnen über Gott und seine Werke wuchsen und erstarkten Davids geistigen und seelischen Kräfte für seine späteren Aufgaben. An jedem Tag wurde seine Verbindung zu Gott inniger. Ständig drang sein Geist in neue Tiefen ein und entdeckte dabei Dinge, die ihn zu Harfenspiel und Liedern anregten. Sein Gesang erhob sich in die Lüfte und hallte von den Hügeln wider, wie eine Antwort auf die Freudengesänge im Himmel. PP 622.3
Wer kann die Frucht jener beschwerlichen Wanderjahre in der Weltabgeschiedenheit dieser Hügel ermessen? Sein inniges Verhältnis zur Natur und zu Gott, die Sorgen um die Herden, die Rettung aus mancherlei Gefahr, die kummervollen wie die erfreulichen Dinge seines bescheidenen Loses — das alles formte Davids Charakter und beeinflußte seine Zukunft. Die Psalmen des großen Sängers Israels sollten noch in späteren Jahrhunderten bei den Gläubigen Liebe und Vertrauen entfachen und sie dem gütigen Vaterherzen Gottes näher bringen, in dem alle seine Geschöpfe leben. PP 623.1
In der Kraft seiner Jugendfrische bereitete sich David darauf vor, eine hohe Stellung unter den Vornehmsten der Erde einzunehmen. Seine ausgezeichneten Fähigkeiten waren für ihn Gottesgaben, die er zum Ruhm des göttlichen Gebers gebrauchte. Die Gelegenheiten zu stiller Selbstbetrachtung und Versenkung vermittelten ihm jene weise Frömmigkeit, die vor Gott und Engeln angenehm ist. Beim Nachsinnen über Gottes Vollkommenheit eröffneten sich ihm klarere Vorstellungen von dessen Wesen. Unverständliche Dinge wurden deutlich, Schwierigkeiten und Verwicklungen einfach. Jede neue Erkenntnis beglückte ihn und löste Andachtslieder zum Lobe Gottes und des Heilands bei ihm aus. Ihn bewegte alles überaus lebhaft: die Liebe, die er spürte, die Sorgen, die ihn bedrängten, die Siege, die er errang. Und weil er in allen Fügungen seines Lebens Gottes Liebe sah, schlug sein Herz höher in Anbetung und Dankbarkeit. Der junge Hirte wurde dadurch innerlich immer gefestigter, und seine Erkenntnis wuchs; denn der Geist des Herrn ruhte auf ihm. PP 623.2