Daniel
Daniel und seine Freunde hatten es in Babylon zweifellos besser getroffen als Josef in Ägypten. Doch schweren Versuchungen waren auch sie ausgesetzt, obwohl die etwas anderer Art waren.ERZ 53.2
Die vier jungen Männer waren mit anderen jüdischen Geiseln von Jerusalem, wo sie trotz ihrer adligen Herkunft recht einfach aufgewachsen waren, nach Babylon verschleppt worden. Sie kamen sozusagen aus der Provinz in das Machtzentrum der damaligen Welt. Dort sollten sie im Sinne eines heidnischen Königs erzogen werden, um später einmal wichtige Ämter in Babylon oder den besetzten Gebieten übernehmen zu können. Die jungen Männer merkten ziemlich schnell, daß Babel auch ein Ort der Intrigen, der Korruption, der Verschwendung und des Lasters war. Die Gefahr, sich dem um des Überlebens oder der Karriere willen anzupassen, war groß. Bei jeder Gelegenheit mußten sie den Spott der Babylonier über sich ergehen lassen. Denen galt die Tatsache, daß ihr König Juda besiegt hatte, daß die heiligen Tempelgeräte aus Jerusalem nun die Schatzkammer Nebukadnezars zierten und daß der besiegte König Israels als Gefangener in Babylon schmachtete, als Beweis dafür, wie weit ihre Götter dem Gott Israels überlegen waren. Doch dann erlebten die vier jungen Hebräer, wie Jahwe gerade sie benutzte, um den Babyloniern zu zeigen, wie es um die angebliche Macht ihrer Götter wirklich stand. Dazu waren sie allerdings nur deshalb fähig, weil sie sich von Beginn an für kompromißlose Treue Gott gegenüber entschieden hatten.ERZ 53.3
Schon gleich nach ihrer Ankunft hatten sie sich einer schweren Prüfung zu stellen. Die Anweisung, daß die ihnen zugedachten Speisen aus der königlichen Küche kommen sollten, war einerseits ein großes Vorrecht, andererseits aber auch ein gefährlicher Fallstrick. Damals war es üblich, jede Speise den Göttern zu weihen, indem man einen kleinen Teil davon als Opfergabe darbrachte. Ein Hebräer versündigte sich an Jahwe, wenn er solche geweihten Speisen oder Getränke zu sich nahm. Aus dieser Sicht verbot ihnen die Treue zu ihrem Gott, sich der Anordnung des Königs zu fügen. Darüber hinaus wollten sie sich wohl nicht den Gefahren aussetzen, die die ausschweifende Lebensweise am babylonischen Hof zwangsläufig für ihre körperliche, seelische und geistige Entwicklung mit sich bringen würde. Deshalb bekannten sie von Anfang an Farbe.ERZ 54.1
Daniel und seine Freunde waren in ihrer Kindheit sorgfältig mit den heiligen Schriften vertraut gemacht worden und hatten gelernt, geistliche Werte über irdische Dinge zu stellen. In Babylon zahlte sich das aus. Ihr Vertrauen auf Gott, die gesunde Lebensweise und ihr Verantwortungsbewußtsein als Botschafter Gottes sorgten dafür, daß sie den anderen Studenten haushoch überlegen waren. “Nach Ablauf der drei Jahre befahl Nebukadnezar, ihm alle jungen Israeliten vorzustellen. Der oberste Hofbeamte brachte sie zum König, und dieser sprach mit ihnen. Dabei wurde ihm klar, daß Daniel, Hananja, Mischaël und Asarja alle anderen in den Schatten stellten. Von nun an waren sie seine Berater.”ERZ 54.2
Obwohl Daniel in Glaubensdingen keine Zugeständnisse kannte, trat er doch nie herausfordernd oder verletzend auf, sondern blieb freundlich und entgegenkommend. Kein Wunder, daß ihm ein steiler beruflicher Aufstieg beschieden war. Innerhalb kurzer Zeit war er erster Minister des Königs. Er diente nacheinander mehreren babylonischen Königen, erlebte den Fall Babylons mit und saß auch unter der Herrschaft der Perser an den Schalthebeln der Macht. Seine Weisheit und seine staatsmännische Begabung, sein hervorragendes Taktgefühl, seine Höflichkeit, seine natürliche Herzensbildung und seine Grundsatztreue mußten sogar seine Feinde anerkennen. Im biblischen Bericht heißt es: “... Da suchten die anderen führenden Männer nach einem Grund, um Daniel anklagen zu können. Er übte sein Amt jedoch so gewissenhaft aus, daß sie ihm nicht das kleinste Vergehen nachweisen konnten; er war weder nachlässig noch bestechlich.”ERZ 55.1
Diesen zuverlässigen Mann machte Gott auch zu seinem Sprecher, indem er ihm die Gabe der Prophetie verlieh. Von Menschen wurde Daniel dadurch geehrt, daß sie ihm große Verantwortung übertrugen und ihm Staatsgeheimnisse anvertrauten. Gott ehrte ihn, indem er ihm Geheimnisse offenbarte, die noch in ferner Zukunft lagen. Mehrere Male diente er Gott als Vermittler von Botschaften an heidnische Könige. Obwohl das, was der Prophet ihnen zu sagen hatte, den Königen nicht immer gefiel, mußten sie doch wie Nebukadnezar bekennen: “Es gibt keinen Zweifel: Euer Gott ist der größte aller Götter und der Herr über alle Könige! Er bringt Verborgenes ans Licht, sonst hättest du dieses Geheimnis nie aufdecken können.” Und Darius ehrte den Gott Daniels in einem Dekret: “Hiermit ordne ich an, in meinem ganzen Reich dem Gott Daniels Ehrfurcht zu erweisen! Denn er ist ein lebendiger Gott, der in alle Ewigkeit regiert. Sein Reich geht niemals unter, seine Herrschaft bleibt für immer bestehen. Er rettet und befreit, er vollbringt Wunder und zeigt seine große Macht im Himmel und auf Erden.”ERZ 55.2
Durch ihr kluges Handeln, ihren Gerechtigkeitssinn, ihre moralische Lauterkeit und ihr Eintreten für andere — nicht zuletzt für solche, die anderen Glaubens waren — blieben Josef und Daniel sich selbst, ihrer Erziehung und ihrer Glaubensüberzeugung treu. Beide standen deswegen in hohem Ansehen — Josef in Ägypten und Daniel in Babylon. Ihr Werdegang, ihr beispielhaftes Leben und ihr Glaube waren für alle, die mit ihnen in Berührung kamen, ein Bezeugen der Güte Gottes und der Liebe Christi.ERZ 56.1
Als sie aus ihren Familien herausgerissen wurden, ahnte niemand, zu welch hohen Aufgaben Gott sie bestimmt hatte. Im Blick auf die Zukunft waren ihnen die Hände gebunden, deshalb vertrauten sie sich bedingungslos der Führung Gottes an. So wurden sie zu einem lebendigen Zeugnis dafür, was Gott mit Menschen erreichen will und kann, die sich ihm übergeben und von ganzem Herzen seinen Willen erfüllen wollen.ERZ 56.2
Was damals möglich war, sollte heute nicht unmöglich sein. Auch in unseren Tagen und in unserer Welt hält Gott Ausschau nach jungen Menschen, die sich ihm zur Verfügung stellen.ERZ 56.3
Was die Welt heute am nötigsten braucht, sind Menschen, die sich um keinen Preis kaufen lassen, die absolut aufrichtig und wahrhaftig sind, Menschen, die sich nicht scheuen, Sünde beim Namen zu nennen, deren Gewissen so auf ihre Pflicht ausgerichtet ist, wie die Magnetnadel zum Pol, Menschen, die auch dann noch für das Recht eintreten, wenn darüber der Himmel einzustürzen droht.ERZ 56.4
Solche Charaktere sind kein Zufallsprodukt und auch kein Glücksfall, sondern die Frucht guter Erziehung. Wahre Charakterbildung hat etwas zu tun mit Selbstbeherrschung, mit der Bereitschaft, sich unter Gottes Willen zu beugen, und mit Liebe, die sich um Gottes und der Menschen willen selbst vergißt.ERZ 56.5
Eltern und Erzieher müssen jungen Leuten immer wieder klar machen, daß sie ihre Gaben und Fähigkeiten nicht nur zur Befriedigung eigener Bedürfnisse und zum Erreichen persönlicher Ziele empfangen haben. Kraft, Zeit, Intelligenz, musische oder künstlerische Fähigkeiten sind nur Leihgaben. Gott vertraut sie uns an, damit wir sie nutzbringend und im Sinne Gottes anwenden. Jeder, dem Gott Gaben verliehen hat, ist wie ein Zweig, von dem der Schöpfer Frucht erwartet; er ist wie Kapital, das Zinsen bringt, oder wie ein Licht, das die Dunkelheit erhellt.ERZ 56.6
Niemand ist nur für sich selbst da, sondern jeder trägt ein Stück Verantwortung für das Wohl aller Menschen.ERZ 57.1