Kapitel 38: Die Versuchung Christi
Christus befand sich in der Wüste, als er von Satan versucht wurde, in einer wesentlich weniger vorteilhaften Situation als Adam, als er in Eden versucht wurde. Der Sohn Gottes demütigte sich und wurde Mensch, nachdem die Menschheit sich bereits viertausend Jahre von Eden und ihrem ursprünglichen reinen und gerechten Zustand entfernt hatte. Die Sünde hatte seit Jahrtausenden ihre schrecklichen Spuren hinterlassen, und es hatte bei den Menschen eine körperliche, geistig-seelische und moralische Degenerierung die Oberhand gewonnen.FG1 281.1
Als Adam in Eden vom Versucher angegriffen wurde, war er noch völlig unberührt von Sünde. Er stand in der Kraft seiner Vollkommenheit vor Gott. Seine körperlichen und geistigen Funktionen waren harmonisch aufeinander abgestimmt.FG1 281.2
In der Wüste der Versuchung stand nun Christus an Adams Statt, um da standzuhalten, wo Adam versagt hatte. Hier überwand Christus die Sünde für die Sünder, viertausend Jahre nachdem Adam seinem lichtdurchfluteten Zuhause den Rücken zugekehrt hatte. Getrennt von der Gegenwart Gottes entfernte sich die Menschheit in jeder Generation weiter von der ursprünglichen Reinheit, der Weisheit und der Erkenntnis, die Adam im Garten Eden besaß. Christus trug die Sünden und Schwächen der Menschen, die zu jener Zeit lebten, als er auf die Erde kam, um ihnen zu helfen. Belastet mit der menschlich-charakteristischen Schwachheit, nahm er es auf sich, von Satan in all den Punkten versucht zu werden, in denen auch die Menschen der Versuchung ausgesetzt waren.FG1 281.3
Adam war umgeben von allem, was sich sein Herz nur wünschen konnte. Alle seine Bedürfnisse waren zufriedengestellt. In diesem herrlichen Garten Eden gab es keine Sünde und keine Anzeichen von Verfall. Die Engel Gottes verkehrten frei und liebevoll mit den beiden sündlosen Menschen. Sie sangen froh ihre Jubellieder zum Lobe ihres Schöpfers. Die Tiere spielten in friedlicher Unschuld mit Adam und Eva und gehorchten ihnen. Adam war ein vollkommener Mensch, das wunderbarste Geschöpf Gottes. Er war das Ebenbild Gottes und nur wenig geringer als die Engel.FG1 281.4
Christus als der zweite Adam
In welch einer völlig gegensätzlichen Situation befand sich der zweite Adam, als er sich in die einsame Wildnis begab, um gänzlich alleine Satan zu begegnen! Seit dem Sündenfall war die Menschheit degeneriert. Sowohl an körperlicher Größe und Kraft, als auch in ihrem moralischen Urteilsvermögen hatte sie sehr verloren bei der Ankunft Jesu auf dieser Erde. Und um die gefallenen Menschen wieder auf eine höhere geistliche und sittliche Stufe zu heben, mußte er ihm da begegnen, wo er stand. Er nahm die menschliche Natur mit all ihren Schwächen und degenerativen Erscheinungen auf sich. Er, der selbst keine Sünde kannte, wurde für uns zum Sündenträger. Er demütigte sich selbst bis zu den tiefsten Tiefen menschlichen Elends, damit er fähig würde, den Menschen zu erreichen und ihn herauszuholen aus dem entwürdigenden Zustand, in den ihn die Sünde gebracht hatte.FG1 282.1
“Denn es ziemte sich für den, um dessentwillen alle Dinge sind und durch den alle Dinge sind, daß er den, der viele Söhne zur Herrlichkeit geführt hat, den Anfänger ihres Heils, durch Leiden vollendete.” Hebräer 2,10. Siehe auch Hebräer 5,9; Hebräer 2,17.18.FG1 282.2
“Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.” Hebräer 4,15.FG1 282.3
Seitdem Satan anfing, sich gegen Gott aufzulehnen, befand er sich im Krieg gegen die Herrschaft Gottes. Daß es ihm gelungen war, Adam und Eva zu verführen und die Sünde in diese Welt zu bringen, ließ diesen Erzfeind überheblich werden, und er prahlte stolz gegenüber den himmlischen Engeln, sollte Christus hier erscheinen und menschliche Natur annehmen, wäre dieser schwächer als er selbst und er könne ihn leicht durch seine Kraft überwältigen. Er frohlockte, daß es ihm gelungen sei, Adam und Eva in Eden durch die Eßlust zu verführen. Die Bewohner der Erde vor der Sintflut habe er auf dieselbe Weise, nämlich durch ihre Eßlust und ihre schlechten Leidenschaften, überwunden. Auch bei den Israeliten sei es ihm gelungen, sie durch ihre Genußsucht zu überwältigen. Er prahlte, daß selbst der Sohn Gottes, der Mose und Josua durch die Wüste begleitete, seiner Macht nicht widerstehen konnte und nicht in der Lage gewesen sei, das von ihm selbst auserwählte Volk nach Kanaan zu bringen; denn nahezu alle, die von Ägypten ausgezogen waren, seien in der Wüste gestorben. Selbst der sanfte Mensch Mose konnte das Ziel nicht erreichen, weil er der Versuchung nachgegeben hatte, sich selbst Ehre anzumaßen, die Gott zukam. David und Salomo, beide Auserwählte Gottes, haben sich versündigt und sind bei Gott in Ungnade gefallen, weil sie ihrer Genußsucht und ihren Leidenschaften nachgaben. Und, so prahlte er, würde es ihm auch gelingen, Gottes Plan der Erlösung der Menschen durch Jesus Christus zu vereiteln.FG1 282.4
Bei der Versuchung in der Wüste hatte Christus vierzig Tage lang nicht gegessen. Zu bestimmten Anlässen hatte auch Mose so lange gefastet. Aber er empfand keine Hungergefühle, und er wurde nicht von einem hinterhältigen und mächtigen Feind bedrängt, sondern er wurde dem Menschlichen entrückt und mit der Herrlichkeit Gottes umgeben und durch sie beschützt.FG1 283.1
Der schreckliche Einfluß der Sünde auf die Menschen
Satan war so erfolgreich in der Verführung der himmlischen Engel und des makellos geschaffenen Adam, daß er dachte, mit dem gedemütigten Christus müßte es ihm ebenso gelingen. Mit Genugtuung betrachtete er das Ergebnis seiner Verführung und die beständige Zunahme der Sünde durch die fortwährende Übertretung der Gebote Gottes seit über 4000 Jahren. Er hat das Verderben über unsere ersten Eltern herbeigeführt und die Sünde und den Tod in die Welt gebracht. Zu allen Zeiten hat er die Menschen aller Völker und aller Gruppierungen ins Verderben geführt. Er brachte Städte und Nationen unter seine Herrschaft und trieb sie so tief in die Sünde, daß sie dermaßen den Zorn Gottes erregten, daß er sie durch Feuer, Wasser, Erdbeben, Krieg, Hungersnöte oder die Pest zerstörte. Durch seine hinterhältigen und unermüdlichen Anstrengungen bemächtigte er sich der Eßlust und der Leidenschaften der Menschen in einem solch beängstigenden Maße, daß er das Ebenbild Gottes im Menschen verzerrte, ja nahezu ganz auslöschte. Die körperliche und moralische Würde des Menschen wurden in einem solchen Ausmaße zerstört, daß er nur noch entfernt an den seelisch ausgewogenen, körperlich vollkommenen Menschen Adam in Eden erinnerte.FG1 283.2
Zu der Zeit des ersten Advents Christi war es Satan gelungen, den Menschen zu erniedrigen, seine ursprüngliche, vollendete Reinheit zu zerstören. Der feine Glanz des Goldes wurde durch Sünde getrübt. Er hatte den Menschen, der zum Herrscher in Eden erschaffen wurde, in einen Sklaven auf dieser Erde verwandelt, der unter der Last der Sünde stöhnte. Die Herrlichkeit Gottes, die (den heiligen) Adam wie ein Gewand umgab, wich von ihm, nachdem er gesündigt hatte. Das Licht der Herrlichkeit Gottes konnte nicht Sünde und Ungehorsam bedecken. Anstelle von Gesundheit und Segen im Überfluß wurden die Nachkommen Adams mit Armut, Krankheit und jeglicher Art von Leid geschlagen.FG1 284.1
Satan hatte die Menschen durch die Macht seiner Verführung mit verlogenen Philosophien dazu gebracht, alles in Frage zu stellen und letztendlich nicht mehr an die göttliche Offenbarung und die Existenz Gottes zu glauben. Er konnte auf eine moralisch verkommene Welt herabblicken, auf eine Menschheit, die einem zornigen Gott ausgeliefert war, der sie um ihrer Sünde willen zur Rechenschaft ziehen würde. Er empfand einen teuflischen Triumph darüber, daß es ihm gelang, den Weg so vieler zu verfinstern und sie zur Übertretung der Gebote Gottes zu verführen. Er kleidete die Sünde in ein ansprechendes Gewand und führte dadurch viele ins Verderben.FG1 284.2
Aber seine erfolgreichste Verführungsmethode war immer die Verschleierung seines wirklichen Wesens und seiner wahren Ziele. Dabei stellte er sich dar als Freund des Menschen und als Wohltäter der Menschheit. Er schmeichelte den Menschen mit dem schönen Märchen, daß es gar keinen Aufrührer gegen Gott gäbe, keinen tödlichen Feind, vor dem sie sich hüten müßten, und daß die Existenz eines leibhaftigen Teufels nichts weiter als etwas Erfundenes sei. So getarnt, bringt er Tausende unter seine Herrschaft. Er betrügt sie in der gleichen Weise, wie er Christus zu betrügen versuchte, indem er vorgibt, ein himmlischer Engel zu sein, der der Menschheit Gutes tut. Und die Mehrheit der Menschen ist so verblendet durch die Sünde, daß sie Satans Betrügermethoden nicht wahrnimmt, und sie verehrt ihn wie einen himmlischen Engel, während er sie ins Verderben führt.FG1 284.3